Gastkommentar António Guterres: „Der Krieg in der Ukraine: Ein lautloser Angriff auf die Entwicklungsländer“

Ukraine Mutter Kind
UNICEF/Olena Hrom - Lyuba sitzt mit ihrem zwei Monate alten Kind in einem Bahnhof in Uschhorod, nachdem sie vor dem Konflikt in der Ukraine geflohen ist

Für die Menschen in der Ukraine ist die russische Invasion ein wahrer Alptraum und eine humanitäre Katastrophe erschreckenden Ausmaßes.

Doch auch für die Armen und Schwachen auf der ganzen Welt wird dieser Krieg immer rascher zu einer Frage von Leben und Tod.

Wir alle müssen mitansehen, wie die Tragödie in der Ukraine ihren Lauf nimmt: Städte werden dem Erdboden gleichgemacht, Menschen leiden und sterben in ihren Wohnungen und auf den Straßen, und eine Flüchtlingskrise greift so rasant um sich, wie man es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat.

Aber auch weit über die Grenzen der Ukraine hinaus, weitab vom Rampenlicht der Medien, hat der Krieg einen lautlosen Angriff auf die Entwicklungsländer ausgelöst. Die Krise könnte bis zu 1,7 Milliarden Menschen – mehr als ein Fünftel der Menschheit – in so viel Armut, Not und Hunger stürzen, wie wir es seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben.

30 Prozent des Weizens und der Gerste, die auf der Welt angebaut werden, ein Fünftel des Maises und über die Hälfte des Sonnenblumenöls stammen aus der Ukraine und der Russischen Föderation. Getreide aus diesen beiden Ländern bedeutet Nahrung für die ärmsten und schwächsten Menschen und macht mehr als ein Drittel der Weizenimporte 45 afrikanischer und am wenigsten entwickelter Länder aus.

Gleichzeitig ist Russland größter Erdgas- und zweitgrößter Erdölexporteur.

Der Krieg verhindert jedoch die Bestellung der Felder und ist gleichzeitig dafür verantwortlich, dass Häfen geschlossen werden, Getreideexporte und Lieferketten abreißen und Preise in die Höhe schnellen.

Viele Entwicklungsländer kämpfen immer noch mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, ebenso wie mit einer beispiellosen Schuldenlast und galoppierender Inflation.

Seit Anfang 2022 sind die Preise für Weizen und Mais um 30 Prozent gestiegen.

Die Preise für Brent-Rohöl sind im vergangenen Jahr um mehr als 60 Prozent gestiegen, während sich die Preise für Erdgas und Düngemittel mehr als verdoppelt haben.

Auch die lebensrettenden Maßnahmen der Vereinten Nationen stehen stark unter Druck. Das Welternährungsprogramm sieht sich vor die unmögliche Entscheidung gestellt, den Hungernden Hilfe zu entziehen, um die Verhungernden zu retten. Für seine Einsätze in Jemen, Tschad und Niger benötigt es dringend 8 Milliarden US-Dollar.

Die prekäre Lage mancher Länder gleitet bereits in eine Krise und schwere soziale Unruhen ab. Und wir wissen, dass die Wurzeln vieler Konflikte in Armut, Ungleichheit, Unterentwicklung und Hoffnungslosigkeit liegen.

Während ein Großteil der Welt sich mit dem ukrainischen Volk solidarisiert, fehlt für die 1,7 Milliarden weiteren potenziellen Opfer des Krieges jedes Anzeichen einer ähnlichen Unterstützung.

Wir stehen moralisch klar in der Pflicht, diesen Menschen überall auf der Welt zu helfen.

Die von mir im vergangenen Monat eingesetzte Globale Gruppe für die Bewältigung der Ernährungs-, Energie- und Finanzkrise soll gemeinsam mit den Regierungen, internationalen Finanzinstitutionen und anderen wichtigen Partnern abgestimmte Lösungen für diese miteinander verknüpften Krisen entwickeln. Ich danke den globalen Führungsverantwortlichen aller Sektoren, die diese Initiative unterstützen.

Was Nahrungsmittel betrifft, so fordern wir alle Länder nachdrücklich auf, die Märkte offen zu halten, Nahrungsmittel nicht zu horten, von ungerechtfertigten und unnötigen Ausfuhrbeschränkungen abzusehen und den Ländern, die am stärksten von Hungersnot bedroht sind, Reserven zur Verfügung zu stellen.

Dies ist nicht der Zeitpunkt für Protektionismus. Wenn wir gemeinsam handeln, verfügen wir über genügend Nahrungsmittel, dass alle Länder diese Krise überwinden können.

Humanitäre Appelle, auch für das Welternährungsprogramm, müssen voll finanziert werden. Wir können es einfach nicht zulassen, dass Menschen im 21. Jahrhundert verhungern.

Was Energie betrifft, so könnte die Nutzung strategischer Bestände und zusätzlicher Reserven die Energiekrise kurzfristig lindern helfen.

Die einzige mittel- und langfristige Lösung besteht jedoch darin, erneuerbare Energien, die nicht von Marktschwankungen betroffen sind, rascher zum Einsatz zu bringen. Dies wird den schrittweisen Ausstieg aus der Kohle und allen anderen fossilen Brennstoffen ermöglichen.

Was Finanzen betrifft, so müssen die Gruppe der 20 und die internationalen Finanzinstitutionen in den Notfallmodus umschalten. Sie müssen Wege finden, Liquidität und Haushaltsspielräume zu erhöhen, damit die Regierungen der Entwicklungsländer in die Ärmsten und Schwächsten und in die Ziele für nachhaltige Entwicklung investieren können.

Dies soll ein erster Schritt sein, unser unfaires globales Finanzsystem, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden lässt, von Grund auf zu reformieren.

Sozialschutzmaßnahmen, einschließlich Bartransfers, werden unverzichtbar sein, um verzweifelten Familien zu helfen, diese Krise zu überstehen.

Viele Entwicklungsländer mit hoher Auslandsverschuldung verfügen jedoch nicht über genügend liquide Mittel, um solche Sicherungsnetze bereitzustellen. Wir können nicht untätig zusehen, wenn diese Länder zu der Entscheidung gezwungen werden, entweder in ihre Bevölkerung zu investieren oder ihre Schulden zu bedienen.

Frieden ist die einzig dauerhafte Lösung für den Krieg in der Ukraine und den damit verbundenen Angriff auf die Ärmsten und Schwächsten der Welt.

Als Vereinte Nationen sind wir nicht nur bestrebt, die unschuldigen Opfer dieses Krieges zu unterstützen – innerhalb wie außerhalb der Ukraine–, sondern wir appellieren auch an die Weltgemeinschaft, mit einer Stimme zu sprechen und unser Plädoyer für den Frieden zu unterstützen.

Dieser Krieg muss ein Ende haben, und zwar sofort.