Afrika: Das Entsetzen und die Hoffnung / von Kofi Annan, Generalsekretär der Vereinten Nationen — Gastkommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Juli 1999

Ich werde den Tag nie vergessen, den ich Anfang dieses Monats in Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones, verbracht habe. Dieser Besuch brachte mir das extreme Leid, aber auch die Widerstandsfähigkeit und die Hoffnung nah, die die Realität des heutigen Afrikas ausmachen.

In den über 30 Jahren, die ich für Vereinten Nationen arbeite – und in denen ich erst kürzlich die Tatorte des Völkermords in Ruanda und die Opfer der ethnischen Säuberungen im Kosovo besucht habe – hat mich nichts richtig auf diese Erfahrung vorbereitet. Ich besuchte ein Rehabilitationszentrum für “Amputierte“. Das Wort suggeriert eine Operation unter Narkose, um das Leben eines Patienten zu retten. Doch hier ging es um das Gegenteil. Dies waren gesunde Menschen bis sie dazu gezwungen wurden, sich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Boden zu legen, wobei ihre Gliedmaßen und andere Körperteile, manchmal mit stumpfen landwirtschaftlichen Geräten, abgehackt wurden. Viele andere haben dies nicht überlebt.

Ich sah eine 86jährige Frau, die auf diese Weise ihre Füße verloren hatte. Und in meinen Armen hielt ich ein zweijähriges Mädchen, dessen rechter Arm abgeschnitten worden war. Solche Greueltaten wurden kaltblütig begangen, um die Bevölkerung zu terrorisieren. In der Folge wurde fast ein Viertel der 4,5 Millionen Einwohner von Sierra Leone zu Flüchtlingen geworden.

Was für einen Trost können wir diesen Menschen geben? Wie können wir anfangen, solche Taten zu erklären oder gar zu rechtfertigen? In ihrem Licht betrachtet erscheinen all unsere schönen Reden über Frieden und Menschlichkeit unangemessen, ja sogar sinnlos. Dennoch kam ich nicht umhin, von dem Mut dieser Opfer und von der Hingabe der Menschen, die sich um sie kümmern, beeindruckt zu sein.
Am darauffolgenden Tag traf ich einige der Flüchtlinge im benachbarten Guinea. Sie haben dort die Bevölkerung – die ohnehin in großer Armut lebt – um mehr als 10 Prozent anwachsen lassen und wurden dennoch sehr großzügig aufgenommen. Diese Flüchtlinge empfingen uns mit Liedern, die von der Sehnsucht nach ihrer Heimat handelten. Sie freuten sich über die Hilfe, die ihre “Brüder und Schwestern“ im Kosovo erhalten und hofften, daß ihrem eigenen Elend nun ähnliche Aufmerksamkeit zuteil werden würde. Ich kann derartigen Mut nicht vergessen und die Augen vor solcher Not nicht verschließen.
In den Straßen von Freetown außerhalb des Rehabilitationszentrums feierten einige der ärmsten Menschen der Welt das Abkommen, das am Tag zuvor von den Führern ihres Landes geschlossen worden war und den achtjährigen Bürgerkrieg beendete. Mit ihrer Freude drückten sie die Hoffnung aus, daß dieser Vertrag, anders als die vorherigen, sie wirklich von der Angst vor Gewalt befreien würde und ihnen eine echte Chance böte, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern.

Dennoch wissen sie genau wie ich, daß der Preis des Friedens eine Amnestie und ein Deal zur Teilung der Macht war. Die Führer jener Bewegung, die die Herrschaft unrechtmäßigerweise an sich gerissen hatte, würden jetzt Seite an Seite mit dem gewählten Präsidenten am Kabinettstisch sitzen und für die Gold- und Diamantenminen, die wirtschaftliche Grundlage des Landes, verantwortlich sein.

Es ist weder für die Bevölkerung von Sierra Leone noch für den Rest der Welt leicht, einen solchen Frieden zu akzeptieren. Er ist kaum mit dem Ziel, “die Kultur der Straflosigkeit zu beenden“, in Einklang zu bringen, das die Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen für Ruanda und für das ehemalige Jugoslawien sowie den zukünftigen Internationalen Strafgerichtshof beflügelt. Aus diesem Grund hat mein Sondergesandter dem Friedensabkommen nur unter Vorbehalt zugestimmt und deutlich gemacht, daß die Amnestie aus Sicht der Vereinten Nationen nicht für Verbrechen wie Völkermord oder andere schwere Verletzungen der internationalen Menschenrechte gelten kann. Auf der anderen Seite können sich die Vereinten Nationen nicht zwischen die Menschen in Sierra Leone und ihre einzige Hoffnung auf Beendigung eines so langen und brutalen Konflikts stellen.

Niemand kann über einen Frieden unter solchen Bedingungen glücklich sein. Dennoch sollten wir die wahre Anstrengung der afrikanischen Solidarität anerkennen, die hinter diesem Frieden steht. Truppen aus Nigeria, Ghana, Guinea und Mali haben die Rebellen im Auftrag der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten aus Freetown vertrieben und den gewählten Präsidenten wieder eingesetzt. Togo und andere westafrikanische Länder haben dann mit Geduld das Friedensabkommen vermittelt.
In Zentralafrika hat ein ähnliches Zusammenwirken von militärischen und diplomatischen Bemühungen zu einem – wenn auch nocht nicht sehr stabilen –Waffenstillstandsabkommen in der Demokratischen Republik Kongo geführt. In Ostafrika haben Eritrea und Äthiopien zumindest im Grundsatz den von der Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) ausgearbeiteten Friedensplan angenommen. Auf dem Gipfeltreffen der OAU in diesem Monat in Algier waren sich die afrikanischen Führer – in zu begrüßenden Abkehr von früheren Positionen – einig über die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit, der Achtung der Menschenrechte und des Respekts vor dem Willen des Volkes, sowie über die Notwendigkeit, sich auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu konzentrieren.

Und viele Afrikaner warten nicht auf ihre Politiker, sondern gehen ihre Probleme in Eigeninitiative an und lösen sie. Ich denke an Frauen wie Maggy und BÈatrice, eine burundische Tutsi und eine ruandische Hutu, die ihre Familien beide in ethnischen Massakern verloren haben und nun gemeinsam ein ethnisch gemischtes Waisenhaus leiten. Oder an Priscilla Misihairabwi, die an der Spitze einer Organisation zur Unterstützung von AIDS-Opfern steht und die das Kondom für die Frau mittels einer erfolgreichen Kampagne in ganz Simbabwe verfügbar gemacht hat.

Wenn solche Menschen die internationale Unterstützung erhielten, die jetzt der Bevölkerung des Kosovo zuteil wird, hätte Afrika eine echte Chance, die Wende zu schaffen. Man könnte die Kindersoldaten entwaffnen und demobilisieren und zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen – aber nur dann, wenn es Schulen gibt, die sie besuchen können, und Arbeit, die sie verrichten können. Es gibt so viele Dinge, die in sehr kurzer Zeit gebaut oder wiederaufgebaut werden müssen, damit die Hoffnung auf Frieden sich erfüllt. Ohne schnelle Hilfe könnten Länder wie Sierra Leone bald wieder in den Teufelskreis von Gewalt und Verzweiflung zurückfallen.

Nie zuvor hat Afrika politische und finanzielle Hilfe so nötig gebraucht wie heute. Aber vielleicht war der Kontinent auch niemals besser in der Lage, von ihr zu profitieren. Wenn jetzt die richtige Art von Hilfe geleistet wird und denen zugute kommt, die sie am besten zu nutzen wissen, könnte sich das tausendfach auszahlen.