Der Weltmarkt muß humaner werden / von Kofi Annan — Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Februar 1999

Die Vereinten Nationen bieten der Wirtschaft einen Pakt über gemeinsame Werte an – zum Nutzen von Freihandel und allgemeinem Wohlstand

In den zwei Jahren seit ich Generalsekretär der Vereinten Nationen bin, hat unsere Beziehung mit der Privatwirtschaft große Fortschritte gemacht. Wir haben mit gemeinsamen Vorhaben, sowohl auf politischer Ebene als auch vor Ort gezeigt, daß sich die Ziele der Vereinten Nationen und der Wirtschaft wechselseitig unterstützen können.

Nun möchte ich die führenden Köpfe der Wirtschaft dafür gewinnen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Ich lade sie ein, mit mir einen globalen Pakt über gemeinsame Werte und Grundsätze abzuschließen, die dem Weltmarkt ein menschliches Profil geben können.

Die Globalisierung ist eine Tatsache. Aber ich fürchte, daß wir ihre Anfälligkeit unterschätzt haben. Die Erweiterung der Märkte übersteigt bei weitem die Fähigkeit der Gesellschaft und ihrer politischen Systeme, sich daran anzupassen, geschweige denn ihren Kurs zu bestimmen. Und die Geschichte lehrt uns, daß ein Ungleichgewicht zwischen Ökonomie, Sozialwesen und Politik nie lange aufrecht erhalten werden kann.

Die Industrieländer lernten diese Lektion durch bittere und kostspielige Erfahrungen in der Weltwirtschaftskrise. Um die soziale Harmonie und die politische Stabilität wiederherzustellen, bauten sie soziale Sicherungsnetze auf und ergriffen Maßnahmen, um wirtschaftliche Schwankungen in Grenzen zu halten und die Opfer zu entschädigen, wo der Markt versagte. Dieser Konsens hat die Tür für eine schrittweise Liberalisierung geöffnet, die ihrerseits zu der anhaltenden Wirtschaftsexpansion nach dem Krieg geführt hat.

Das, was wir heute brauchen, ist ein ähnlicher Pakt in globalem Maßstab, um die neue Weltwirtschaft zu stützen. Wenn wir hier erfolgreich sind, könnten wir ein Zeitalter weltweiten Wohlstands einleiten, der sich mit jenem vergleichen ließe, den die Industrieländer in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten.

Vor diesem Hintergrund lade ich die Unternehmensführungen dazu ein, sich für zentrale Werte der Menschenrechte, des Arbeitslebens und der Umwelt einzusetzen und sich für ihre Verwirklichung stark zu machen.

Warum gerade diese drei Bereiche? Zunächst, weil hier die Privatwirtschaft spürbare Veränderungen bewirken kann.

Zweitens, weil hier bereits allgemeingültige Werte in internationalen Abkommen definiert wurden, wie z.B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation über Grundsätze und Rechte am Arbeitsplatz und in der Rio-Deklaration der UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992.

Drittens, weil verschiedenen Gruppen mit enormem Druck versuchen, in diesen drei Bereichen angemessene Standards herbeizuführen, um Handel und Investition Beschränkungen aufzuerlegen. Ihre Sorgen sind berechtigt, aber Handelsbeschränkungen und Investitionshemmnisse sind dafür kein geeignetes Mittel. Statt dessen sollten wir nach Wegen suchen, um die erklärten Werte auf andere Weise zu verwirklichen. Ich fürchte, wenn uns das nicht gelingt, könnte die freie Weltwirtschaft – und vor allem die multilateralen Handelsbeziehungen, die zu den größten Errungenschaften der letzten 50 Jahre zählen – in Gefahr geraten.

Wie können wir diese Werte fördern? Vor allem auf zweifache Weise:
Einmal, in der öffentlichen politischen Arena. Die Wirtschaft kann dafür eintreten, daß die Staaten die multilateralen Institutionen mit jenen Ressourcen und jener Autorität ausstatten, die sie für ihre Arbeit brauchen.

Die Vereinten Nationen fördern Frieden und Entwicklung, also die Voraussetzungen dafür, daß soziale und ökologische Ziele überhaupt verwirklicht werden können. Die Internationale Arbeitsorganisation, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen setzen sich für bessere Arbeitsbedingungen, Achtung der Menschenrechte und mehr Umweltqualität ein. Wir hoffen, daß wir in Zukunft bei diesen Vorhaben die Wirtschaft zu unseren Partnern zählen können.

Zweitens, im eigenen Wirkungsbereich der Privatwirtschaft.
Viele der Unternehmen sind große Investoren, wichtige Arbeitgeber und führende Produzenten in Dutzenden Ländern weltweit. Diese Macht bringt große Chancen – aber auch große Verantwortung.

Menschenrechte und angemessene Arbeits- und Umweltstandards können direkt, am Beispiel ihrer eigenen Betriebsführung, gefördert werden. Ja, die Wirtschaft kann diese allgemeingültigen Werte, mit denen sich die Menschen in aller Welt persönlich identifizieren können, sogar als Bindemittel für den Zusammenhalt ihrer globalen Unternehmen nützen.

Warum sollte die Wirtschaft nicht mit gutem Beispiel vorangehen und dafür sorgen, daß die Menschenrechte in ihrer eigenen Unternehmenspraxis unterstützt und geachtet werden und daß Menschenrechtsverletzungen nicht Vorschub geleistet wird?

Unternehmen müssen nicht erst darauf warten, bis jedes Land Gesetze zum Schutz der Versammlungsfreiheit erlassen und das Recht auf Tarifverhandlungen eingeführt hat, um ihre eigenen Angestellten und die ihrer Subunternehmer in den Genuß dieser Rechte kommen zu lassen.

Zumindest könnten sie sicherstellen, daß sie selbst, weder direkt noch indirekt, keine minderjährigen Kinder beschäftigen oder von Zwangsarbeit profitieren und daß sie bei ihrer Einstellungspolitik niemanden aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht oder ethnischer Herkunft diskriminieren.

Sie können auch vorbeugende Maßnahmen zum Schutz der Umwelt unterstützen und Initiativen zur Förderung größerer Verantwortlichkeit gegenüber der Umwelt ergreifen. Und sie können die Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicher Technologien fördern.

Die maßgeblichen UNO-Institutionen – der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, die Internationale Arbeitsorganisation, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen – stehen bereit, wo erforderlich, die Wirtschaft dabei zu unterstützen, diese erklärten Werte und Prinzipien in ihre Konzernpolitik und ihre Unternehmenspraxis zu integrieren. Wir sind bereit, den Dialog zwischen der Wirtschaft und anderen sozialen Gruppen zu fördern und damit zur Suche nach gangbaren Lösungen für die Anliegen und Sorgen dieser Gruppen beizutragen.

Wenn Unternehmen in dieser Weise aktiv werden wollen, laden wir sie ein, das Gespräch mit uns zu suchen. Eine eigens dafür eingerichtete Webseite, www.un.org/partners, soll als zentrale Anlaufstelle für alle Unternehmen dienen, die an den Vereinten Nationen interessiert sind.

Von größerer Bedeutung ist vielleicht, was wir auf politischer Ebene bewegen können, um ein Umfeld zu unterstützen und zu erhalten, das den Handel und freie Märkte begünstigt.

Ich schlage dafür einen richtigen Pakt vor, weil keine Seite ohne die andere erfolgreich sein kann. Ohne aktives Engagement und Unterstützung der Privatwirtschaft besteht die Gefahr, daß die allgemeingültigen Werte nur hehre Worte bleiben – Dokumente, deren Jubliäen wir feiern und über die wir Reden halten, aber die nur einen beschränkten Einfluß auf das Leben der einfachen Menschen haben.

Und bevor nicht deutlich wird, daß diese Werte wirklich greifen, könnte es immer schwieriger werden, überzeugende Argumente für den freien globalen Markt zu finden.

Wir sollten uns daran erinnern, daß die globalen Märkte und das multilaterale Handelssystem, daß wir heute haben, nicht zufällig entstanden sind. Sie sind das Ergebnis von aufgeklärten politischen Entscheidungen der Regierungen seit 1945. Wenn wir sie im neuen Jahrhundert erhalten wollen, dann müssen wir alle – Regierungen, Unternehmen, Lobbyisten und internationale Organisationen – jetzt die richtigen Entscheidungen treffen.