Deutschlandfunk – Interview am Morgen, 22. April 1999: “Welche Rolle kann die UNO konkret noch in der Kosovo-Krise spielen?“ — Siegfried Buschlüter im Gespräch mit Kofi Annan, Generalsekretär der Vereinten Nationen

Buschlüter: Herr Generalsekretär, wie ist es um Ihre Kosovo-Initiative bestellt, wie weit sind Sie? Was müssen Sie noch erreichen, bevor Sie sagen können, Sie haben es geschafft?

Annan: Ich weiß nicht, ob ich je sagen kann: Ich habe es geschafft. Wir befinden uns in einer sehr komplexen und schwierigen Lage. Wie Sie wissen, habe ich meine Vorschläge am 9. April vorgelegt und sie am Montag mit dem Sicherheitsrat ausführlich besprochen. Die EU hat mich freundlicherweise zu ihrem Gipfel nach Brüssel eingeladen, und da haben wir auch über dieses Thema gesprochen. Ich werde in Kürze Kosovo-Beauftragte ernennen und hoffe, daß wir bald wissen, wie wir weiterkommen. Alle Politiker, mit denen ich in Brüssel gesprochen habe, sehen eine sehr wichtige Rolle für die Vereinten Nationen und für den Sicherheitsrat. Ich hoffe, wir können uns im Rat darauf verständigen, wie es weitergeht. Ich habe die Ratsmitglieder gebeten, einträchtig und geschlossen zusammenzuarbeiten. Denn nur, wenn die internationale Gemeinschaft in einer Krise dieser Art zusammenfindet, können wir auch Fortschritte erzielen.

Buschlüter: Nach Ihren Gesprächen in Berlin reisen Sie nach Moskau weiter. Was hoffen Sie, da zu erreichen?

Annan: Wie Sie wissen, haben die Russen in dieser Frage eine sehr aktive und konstruktive Rolle gespielt. Ich halte die Rolle Rußlands für entscheidend, sowohl im Sicherheitsrat, als auch bei der Lösung dieser Krise. Ich stehe mit den Russen in Kontakt, so wie mit einer ganzen Reihe von Regierungschefs. Ich hoffe also, mit ihnen zu erörtern, was sie selber vorhaben, wie ich mit ihnen zusammenarbeiten kann – um sicherzugehen, daß wir auch die richtigen Ergebnisse erzielen. In meinen Beratungen mit dem Sicherheitsrat habe ich klargestellt, daß Erfolg sich letztlich dadurch definiert, wie wir den Kosovo-Albanern und der Zivilbevölkerung in der Region helfen. Erfolg können wir nur beanspruchen, wenn sie unter sicheren Bedingungen nach Hause zurückkehren können, wenn ihre Menschenrechte und ihre politischen Rechte geschützt sind und sie mit dem Wiederaufbau ihrer Zukunft beginnen können. So definiere ich Erfolg.

Buschlüter: Sie haben kürzlich vor der Menschenrechtskommission in Genf erklärt, daß Nationen, die sich des Völkermordes schuldig machen, sich nicht hinter der UN-Charta – die bisher die Souveränität von Staaten geschützt hat – verstecken können. Der Schutz der Menschenrechte – haben Sie gesagt – muß Vorrang haben vor der Sorge um staatliche Souveränität. Sie haben angedeutet, daß Menschenrechte mit Gewalt geschützt werden können. Versuchen Sie, das Völkerrecht umzuschreiben?

Annan: Ja, Sie haben mich richtig zitiert. Ich habe diesen Absatz selber im Flugzeug auf dem Flug nach Genf noch einmal umgeschrieben. Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Obwohl die Vereinten Nationen eine Organisation von Mitgliedstaaten sind, gehören die Rechte und Ideen, die wir zu schützen helfen, den Menschen. Deshalb sollten wir den Menschen in den Mittelpunkt aller unserer Handlungen stellen. Ich jedenfalls werde als Generalsekretär so handeln. Ich habe auch gesagt, daß sich das Völkerrecht entwickelt, daß Regierungen sich nicht mehr hinter Staatsgrenzen verstecken können, wenn sie die Menschenrechte ihrer Bürger verletzen und meinen, die Welt würde schweigend zuschauen. Es gibt konkrete Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit dafür, daß sich das Völkerrecht in diese Richtung weiterentwickelt.

Buschlüter: Glauben Sie denn, daß die Vereinten Nationen in dieser Frage mehrheitlich hinter Ihnen stehen?

Annan: Ich hoffe, daß die UN, daß die Menschen weltweit diese Ansicht mehrheitlich unterstützen, denn es könnte sein, daß wir sie morgen schon mit denselben Argumenten schützen müssen.

Buschlüter: Welche Rolle kann die UNO denn konkret noch in der Kosovo-Krise spielen?

Annan: Aus meinen Gesprächen mit Regierungschefs ist klargeworden, daß der Einsatz einer internationalen Truppe vom Sicherheitsrat gebilligt werden muß. Auch für die Durchsetzung von Ðbergangsregelungen für das Kosovo braucht man den Sicherheitsrat. Er spielt eine Schlüsselrolle für jegliche politische Regelung. Ich glaube schon, daß die UN bei der Suche nach einer diplomatischen Lösung eine Rolle zu spielen hat; wir sind da aber noch im Anfangsstadium. Ich glaube jedoch, daß wir jede Chance für die Diplomatie ergreifen müssen, und das werden wir auch tun.

Buschlüter: Wären Sie denn bereit, nach Belgrad zu reisen?

Annan: Ich habe zum jetzigen Zeitpunkt keine derartigen Pläne, aber nach Moskau werde ich reisen. Man muß so etwas sehr sorgfältig vorbereiten. Der Gesprächspartner, mit dem man es zu tun hat, muß bereit sein, sich zu engagieren. Natürlich ist es immer besser, die gesteckten Ziele auf diplomatischem Wege zu erreichen.

Buschlüter: Sie haben von einer sehr aktiven und entscheidenden Rolle Rußlands gesprochen. Wie würden Sie denn die Rolle der Deutschen beschreiben?

Annan: Als Vorsitzender der EU spielt Deutschland ebenfalls eine sehr aktive und wichtige Rolle. Und ich bin dem Bundeskanzler sehr dankbar, daß er mich zum Gipfel nach Brüssel eingeladen hat, um mit den anderen Regierungschefs über die Kosovo-Krise zu sprechen. Sie haben darüber diskutiert, was die nächsten Schritte sein könnten, sobald sich die Lage beruhigt und die Kosovo-Albaner zurückkehren können. Deutschland hat sich auch in der Flüchtlingsfrage sehr großzügig verhalten und Tausenden von Flüchtlingen Asyl angeboten, bis sie in ihre Heimat zurückkehren können. Das hat Vorbildcharakter und zeigt, daß man Menschen in Not helfen will.

Buschlüter: Herr Generalsekretär, Sie haben für Einheit und Harmonie im Sicherheitsrat plädiert. Wie realistisch ist das überhaupt?

Annan: Im Moment mag das nicht sehr realistisch oder hoffnungsvoll erscheinen. In bezug auf Kosovo gibt es gravierende Differenzen zwischen Sicherheitsratsmitgliedern, aber wir müssen eben hart daran arbeiten, diese Differenzen zu überbrücken. Unüberbrückbar sind sie nicht. Wir arbeiten sehr intensiv mit den Russen und anderen zusammen, aber es wird viel Zeit erfordern, die Differenzen zu überbrücken. Auch die ständigen Mitglieder des Rates können nur etwas erreichen, wenn sie zusammenarbeiten. Ein Veto ist etwas negatives, damit kann man etwas stoppen, aber nichts erreichen. Deshalb ist es so wichtig, daß sich die Ratsmitglieder zusammenfinden. Im Moment sieht es hoffnungslos aus, aber ich bin sehr optimistisch, daß wir weiter daran arbeiten werden. Und ich glaube, wir können den Rat zur Einigkeit bringen. Die Ratsmitglieder werden einsehen, daß sie im Interesse der Welt und im Interesse der Balkan-Region zusammenarbeiten müssen. Wir haben keine andere Wahl.

Buschlüter: Kann ich Sie fragen, wie denn eine politische Lösung aussehen könnte? Ein größeres Hindernis scheint in der Forderung der NATO zu liegen, den Kern einer zukünftigen Sicherheitstruppe zu bilden. Wie kann man das regeln?

Annan: Der Einsatz einer internationalen Truppe zum Schutz der zurückkehrenden Flüchtlinge ist entscheidend. Es gibt ernste Diskussionen über die Art und Zusammensetzung dieser Truppe. Die NATO hat zuerst erklärt, es müsse eine NATO-Truppe sein, jetzt ist vom ‚Kern‘ die Rede. Wichtig ist – und daran darf es keinen Zweifel geben –, daß diese Truppe glaubwürdig sein muß, um ihren Zweck zu erfüllen. In so einer Lage muß man manchmal Gewalt demonstrieren, um sie nicht anwenden zu müssen. Wie auch immer diese Truppe zusammengesetzt sein mag: Die Glaubwürdigkeit und die Fähigkeit, das Ziel zu erreichen, das ist wichtig.

Buschlüter: Aber diese Truppe wird ein Mandat des Sicherheitsrates erfordern.

Annan: Sie wird ein Mandat des Sicherheitsrates erfordern, und in meinen Gesprächen mit Regierungschefs – nicht nur in Brüssel – habe ich in dieser Frage Ðbereinstimmung festgestellt.

Buschlüter: Auch bei den USA?

Annan: Ich habe darüber nicht konkret mit den Amerikanern gesprochen, aber nach meinem Gefühl sind die USA dieser Lösung nicht abgeneigt. Ich mag mich allerdings irren.

Buschlüter: Wie gefährlich wäre es denn aus Ihrer Sicht, wenn die Vereinten Nationen in Krisen, wie dieser, keine Rolle mehr spielen würden?

Annan: Wenn die UNO an den Rand gedrängt, diskreditiert und entscheidend geschwächt würde, wäre das für die ganze Welt gefährlich. Die UNO ist das einzige Instrument, das wir haben. Wir brauchen die UNO heute mehr denn je in dem globalen Dorf, in dem wir alle leben. Sie ist die einzige Organisation, die sich bemüht hat, uns Werte zu vermitteln. Die internationale Gemeinschaft, Ihr Land – wie meines, brauchen Werte, die wir teilen, die uns zusammenführen. Die UNO tut das durch die Charta, durch die Menschenrechtskonvention, durch Normen, die sie entwickelt hat. Wir haben ein Forum geschaffen, das die Mitgliedsstaaten zusammenführt. Und wenn Sie auf die letzten zwei Jahrzehnte zurückschauen, dann sehen Sie, daß alle großen UN-Konferenzen eine Agenda für die Welt geschaffen haben. Denken Sie nur an die nachhaltige Entwicklung. Wir erinnern die Menschen daran, daß die natürlichen Ressourcen nicht unerschöpflich sind. Denken Sie an die Konferenzen in Kopenhagen und in Rio über Weltbevölkerung und über Umweltfragen. Alles sind Initiativen der Vereinten Nationen. Es gibt heutzutage Probleme, die kein Land – wie mächtig es auch sein mag – allein lösen kann: Ob Umweltfragen, Drogenhandel oder Terrorismus. Nur zusammen können wir damit fertig werden. Wer glaubt, die UNO sei irrelevant, wir könnten ohne sie leben, dem sage ich: Denken Sie noch einmal darüber nach.