Die Linderung der Armut: Eine globale Strategie

UNIC/12

Vortrag von Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali vor Mitgliedern der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag

BONN, 21. Juni 1996 (UN-Informationszentrum) — Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali hält vor Mitgliedern der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag heute nachstehenden Vortrag in der Friedrich-Ebert-Stiftung:

Ich freue mich, über die Ehre, die Sie mir heute geben. Ich bin dankbar für diese Gelegenheit, einige Gedanken zu einem wichtigen Aspekt der Arbeit der Vereinte Nationen mit Ihnen teilen zu können. Es ist eine ganz besondere Auszeichnung für mich, heute unter Ihnen zu sein, denn heute bin ich unter Freunden, von denen ich einige schon seit vielen Jahren kenne.

Ich möchte heute über den Kampf gegen die Armmut in der Welt sprechen. Ich sage das inmitten der Repräsentanten einer großen sozial engagierten und moralisch verantwortlichen Bewegungen der Welt. In Ihrer landen und ehrenvollen Geschichte, sind Sie großen politischen und moralischen Herausforderungen mit Mut und Einfallsreichtum begegnet. Neue Ideen haben alte Konzepte in Frage gestellt. Ihre Programme haben neue Hoffnung geweckt.

Aus diesem Grund möchte ich einige Ideen der Vereinte Nationen zur Beseitigung der Aarmut vorstellen. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber Sie sind an ehrgeizige Ziele gewöhnt. Vielleicht ist es sogar ein Traum. Aber durch Entschlossenheit, durch gemeinsame Anstrengung von Männern und Frauen guten Willens, können unsere Träume Wirklichkeit werden.

Lassen Sie mich zur Realität zurückkehren. Gerade jetzt, während wir hier reden, leben 1,3 Milliarden Menschen in absoluter Armut, die meisten davon Frauen. Sie sind ausgeschlossen von den Früchten des Wohlstands. Sie führen das dumpfe, hoffnungslose Leben der Ausgeschlossenen und Marginalisierten. Die Armen haben keine Aussicht auf Arbeitsplätze. Es gibt kaum Unterricht oder Ausbildung. Es gibt wenig Hoffnung, dem grimmigen Hunger und dem Mangel an Unterkunft zu entkommen. Die Armen sind diejenigen, die zuerst und am schlimmsten von Naturkatastrophen und Kriegen getroffen werden.

Aber Arme gibt es nicht nur in der sogenannten „Vierten Welt“. Auch entwickelte Länder haben ihre Armutsnischen, so wie es in den Entwicklungsländern auch kleine, reiche Eliten gibt. Die Herausforderung der Armut muss von allen gesellschaftlichen Gruppen, allen Ländern und allen Regionen angenommen werden.

Angesichts der wirtschaftlichen und finanziellen Globalisierung und der Wanderung von Menschen über nationale Grenzen hinweg, kann es keine isolationistische Haltung gegenüber Armut und Entwicklung mehr geben.

Vor 45 Jahren war es Ihr Ziel, in den Worten der Frankfurter Erklärung, „eine Gesellschaft zu schaffen, in der freie Menschen gleichberechtigt zusammenarbeiten“. Dieses Ziel wurde in Deutschland zum größten Teil erreicht. Nun muss es auch weltweit erreicht werden.

Die Festschrift zu Ehren eines der hervorragendesten Führer Ihrer Partei, Helmut Schmidt, war überschrieben: „Perspektiven globaler Verantwortung“. Und mein Freund Willy Brand war mehr als eine deutsche Führungspersönlichkeit. Er hatte eine globale, weitreichende Vision von historischen Prozessen und sozialen Bedürfnissen. Und das ist wirklich die wahre menschliche Ausstrahlung der sozialdemokratischen Idee an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend.

Seit ich das Amt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen im Januar 1992 übernommen habe, war der Kampf gegen die Armut ein vorrangiges Anliegen für mich. Es ist wahr, die Medien haben ihr gleißendes Licht auf zwei oder drei Friedensmissionen gerichtet. Da ist Dramatik, die den Lesern und Zuschauern gefällt. Aber der größte Teil unserer Arbeit, das Herzstück unserer Arbeit, galt immer der Entwicklung.

Für Millionen von Menschen rund um die Welt besteht das Bild der Vereinten Nationen nicht aus dem blauen Helm. Sie sehen das Gesicht eines Lehrers, eines Landwirtschaftsexperten, eines Arztes, einer Krankenschwester – unsere Soldaten an den Fronten des Krieges gegen die Armut. Jene wissen, und Sie wissen, dass die wichtigste Quelle von Stabilität und die stärkste Unterstützung des Friedens in der Entwicklung und in der Beseitigung von Armut zu finden sind.

Die Kampagne der Vereinten Nationen zur Beseitigung der Armut beruht auf zwei Grundsätzen.

Erstens, die Beseitigung der Armut betrifft alle Staaten und Gesellschaften. Sie erfordert daher eine gemeinsame Anstrengung der globalen Gesellschaft.

Zweitens, die Beseitigung der Armut liegt in der Verantwortung von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren. Den neuen globalen Akteuren kommt dabei ebenso eine Rolle zu, wie den Staaten. Parlamentarier, Unternehmer, Gewerkschaften, Akademiker, Religionsgemeinschaften und Nichtregierungsorganisationen, jeder muss seine Rolle spielen und jede Rolle muss auf die Beseitigung von Armut ausgerichtet sein.

Erlauben Sie mir, auf diese Punkte im einzelnen näher einzugeben.

In den vergangenenfünf Jahren haben die Vereinte Nationen die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Bereiche der menschlichen Entwicklung gelenkt. In einem Zyklus von Weltkonferenzen und Gipfeltreffen haben große und kleine, reiche und arme Nationen die Bereitschaft gezeigt, sich zusammenzusetzen, um ihre gemeinsamen Probleme anzugehen.

Die Liste der Konferenzen ist beeindruckend:

  • in Rio de Janeiro, 1992, haben die Mitglieder der Vereinten Nationen die Beziehungen zwischen Umwelt und Entwicklung diskutiert.
  • in Wien, 1993, ging es um die Menschenrechte einschließlich der Definition des Rechts auf Entwicklung.
  • in Kairo, 1994, lag der Schwerpunkt auf Bevölkerung und Entwicklung.
  • in Barbados, 1994, lag der Schwerpunkt auf Bevölkerung von kleinen Inselstaaten.
  • in Neapel, 1994, auf der grenzüberschreitende organisierte Kriminalität.
  • in Yokohama, 1994, auf der Reduzierung von Naturkatastrophen.
  • in Kopenhagen, 1995, auf sozialer Entwicklung.
  • in Peking, 1995, auf der Förderung von Frauen.
  • in Midrand, Südafrika, 1996, auf Globalisierung und Liberalisierung.
  • und in Istanbul, erst letzte Woche, auf Wohn- und Siedlungsfragen und der Herausforderung der Verstädterung.

Die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen sind auf diesen Konferenzen und Gipfeltreffen zusammengekommen, um langsam , aber mit großer Sorgfalt, eine Agenda für Entwicklung zu erarbeiten. An die Stelle des Ideologiekonflikts, der aus dem alten Kalten Krieg stammte, setzten wir die Realität von Kooperation und gemeinsamen Konzepten. Entwicklung in globalen Maßstab ist zu einer gemeinsamen Anstrengung geworden. Ein kooperatives System. Keine Konfliktsituation.

Bei der Aufgabe wurde ich besonders ermutigt durch die klare internationale Anerkennung der Bedeutung, die einer gemeinsamen Haltung in Entwicklungsfragen zukommt. Lokale Besonderheiten müssen respektiert werden, genauso wie religiöse Überzeugungen und kulturelle Werte anerkannt werden müssen.

Die Agenda für Entwicklung der nächsten Jahre wird gemeinsame Probleme hervorheben. Wenn möglich wird sie versuchen, gemeinsame Lösungen vorzuschlagen; sie will aber kein Modell aufdrängen.

Weitgehend als Ergebnis der Konferenzen und Gipfel der Vereinten Nationen und der intellektuellen und politischen Arbeit, die sie angeregt haben, ist es heute nicht länger möglich, Entwicklung mit Wachstum und Wachstum mit dem Funktionieren eines idealisierten perfekten Wettbewerbssystems zu verwechseln.

Entwicklung muss als fachübergreifender Prozess verstanden werden, als fortwährender Kampf um die Erhaltung sozialer Errungenschaften und die Verbesserung der sozialer Lage. Entwicklung umfasst die Dimensionen von Frieden und Sicherheit, ökonomischer Wachstum, Umwelt, sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und gute Staatsführung.

Sofortlösung haben wir nicht erreicht und auch nicht erwartet. Aber die gemeinsame Suche hat begonnen. Jetzt gibt es bindende Konventionen zur Umwelt. Entwicklung wurde als Menschenrecht für alle anerkannt. 117 Staatsoberhäupter und Regierungschefs haben sich in Kopenhagen dazu verpflichtet, Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung ein Ende zu setzten. Die Führer der Welt trafen sich in Peking, um ein Aktionsprogramm zur ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Förderung der Frau zu erstellen.

Vertreter der Mitgliedsstaaten von höchstem Rang waren in der Lage, zusammenzukommen, Meinungen auszutauschen und Verhandlungsdösungen vorzuschlagen. Dies ist ein zusätzlicher Gewinn dieser Konferenzen und Gipfeltreffen. Sie schaffen eine Weltgesellschaf, die sich um bestimmte Fragen formiert. Sie fördern den Kontakt zwischen Staaten zu Themen, die für die Weltbevölkerung von Bedeutung sind. Dies war eines der wichtigsten Ziele der Vereinten Nationen. Und ich bin stolz, ein Teil diese Prozesses zu sein.

Der zweite Grundsatz im Kampf gegen die Armut ist die Kooperation zwischen Saaten und nicht-staatlichen Akteuren.

Die Beteiligung von nicht-staatlichen Akteuren in der Rehe der Weltkonferenzen der Vereinten Nationen begann mit dem Erdgipfel 1992. Tausende NRO-Vertreter kamen nach Rio, um ihre Meinung über den Zusammenhang zwischen Umwelt und Entwicklung zu äußern. Daher war der Erdgipfel nicht nur ein Gipfel für die Erde, sonder auch von der Erde.

Die Beteiligung von NRO an Konferenzen der Vereinten Nationen setzte sich in der Wiener Menschenrechtskonferenz und der Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo fort. Auf dem Sozialgipfel in Kopenhagen kamen neben den 117 Staatsoberhäuptern auch Tausende NRO. Auf der Konferenz von Peking gab es 35.000 Teilnehmer von Nichtregierungsorganisationen, die ihre Meinungen den Delegierten mitteilen konnten.

Letzte Woche in Istanbul auf der Habitat II erlebte die Beteiligung von NRO an Konferenzen der Vereinten Nationen einen neuen Höhepunkt. Zum ersten Mal nahmen NRO nicht an einer Parallelkonferenz teil, sondern waren auf der Hauptkonferenz präsent und hatten Gelegenheit, an der Ausarbeitung des Aktionsprogramms direkt mitzuwirken. Außerdem kommt den NRO einen entscheidende Rolle in der Umsetzungsphase dieser Konferenz zu.

Aber NRO sind nicht die einzigen nicht-staatlichen Akteure. In einer Welt der Globalisierung von finanziellen uns wirtschaftlichen Strömen können große transnationale Unternehmen nicht übersehen werden. Auch sie müssen in die große Bewegung für eine Agenda für Entwicklung eingebunden werden. Auch sie müssen am Kampf zur Beseitigung der Armut teilnehmen. Die wurde letzte Woche auf der Habitat II in Istanbul gezeigt, an der auch die internationalen Wirtschaft teilgenommen hat.

Als Parlamentarier wissen Sie von der Bedeutung der Kooperation mit den Vereinten Nationen. Seit ich meinen Amtsantritt habe ich versucht, engere Beziehungen zwischen Parlamentariern und den Vereinten Nationen aufzubauen. So hat beispielsweise die Inter-Parlamentarische Union, zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen, ihre Treffen im Saal der Halle der Generalversammlung abgehalten. Wir sind nun dabei eine Vereinbarung mit der IPU über ihre künftige Teilnahme an der Beratung der Vereinten Nationen abzuschließen.

Die Öffnung der Vereinten Nationen für nicht-staatliche Akteure ist ein Teil der Bemühungen zur Demokratisierung des internationales Systems. Ich weiß, dass Ihre Partei diese Politik seit vielen Jahren unterstützt. Auch wir bei den Vereinten Nationen trauen uns, demokratischer zu werden: Mehr Demokratie wagen! – um meinen lieben Freud Willy Brandt zu zitieren.

Von Anfang an waren die Vereinten Nationen eine Organisation von Staaten. Aber ihre Charta beginnt mit den Worten, „Wir Völker … „ . Und die Völker der Vereinten Nationen müssen in diesem ihren Zuhause werden.

Auf einer praktischeren Ebene zeigt der Druck der Globalisierung, dass die Anerkennung der neuen Akteure in den internationalen Beziehungen den Zielen der Vereinten Nationen nur nützten kann. Sie könnte sogar entscheidend für das Erreichen dieser Ziele sein.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat während des Kalten Krieges nach Osten geblickt, um Brücken des Friedens und der Verständigung zu bauen. Dies war ein zentraler Glaubenssatz Ihrer auswärtigen Politik. Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, muss Ostpolitik durch Südpolitik oder sogar durch Weltpolitik ersetzt werden.

Zusammen müssen wir die Herausforderung der Armutsbeseitigung annehmen. Das bleibt auch weiterhin die Mission der Sozialdemokratie und die Mission der Vereinten Nationen.