Die urbane Revolution / von Klaus Töpfer, Untergeneralsekretär und amtierender Exekutivdirektor, Zentrum der Vereinten Nationen für Wohn- und Siedlungsfragen (Habitat)

UNIC/149
Hintergrundinformation

In weniger als einem Jahr, zum Anbruch des neuen Jahrtausends, wird eine urbane Revolution stattfinden: erstmals in der Geschichte der Menschheit wird die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben.

Diese urbane Revolution wird sich in den folgenden drei Jahrzehnten noch weiter verschärfen, bis schließlich doppelt so viele Menschen in städtischen Regionen leben werden wie auf dem Land. Der größte Teil dieser neuen Stadtbevölkerung wird in Afrika und in Asien zu finden sein und sich zu den zahlreichen Stadtbewohnern gesellen, die schon heute drei Viertel der Bevölkerung Europas, Nordamerikas und Südamerikas ausmachen. In Afrika, dem heute noch am wenigsten urbanisierten Kontinent, werden im Jahr 2020 zwei Drittel der Bevölkerung in Städten leben. Und die größten, am dichtesten besiedelten Mega-Metropolen mit mehr als zehn Millionen Einwohnern werden sich dann im Süden, und nicht mehr im Norden befinden.

Einerseits sind Städte – und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern – die Zentren globaler Finanzmärkte, von Industrie und Kommunikation, von reicher kultureller Vielfalt und politischer Dynamik, unglaublich produktiv, kreativ und innovativ. Andererseits aber wurden die Städte auch zu Brutstätten von Armut, Gewalt, Umweltverschmutzung und Übervölkerung. Nicht nachhaltiges Konsumverhalten der städtischen Massenbevölkerung, Konzentration von Industrieanlagen, intensive Wirtschaftstätigkeit, zunehmende Motorisierung und ineffiziente Abfallbeseitigung lassen nur allzu deutlich erkennen, daß die großen Umweltprobleme der Zukunft die Probleme der Städte sein werden.

Mindestens 600 Millionen Stadtbewohner in den Entwicklungsländern – und ihre Zahl nimmt ständig zu – leben bereits heute in so ärmlichen Wohnverhältnissen mit völlig unzureichender Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung, daß ihr Leben und ihre Gesundheit ständig gefährdet sind. Für Millionen Menschen in aller Welt ist das Leben in der Stadt zum Alptraum geworden, von den Visionen eines städtischen Lebens in Sicherheit und Wohlstand weiter entfernt denn je. Das gilt besonders für die Jugend, die dieses urbane Jahrtausend von ihren Vorfahren übernehmen wird.

Wir leben nicht nur in einer zunehmend urbanisierten Welt, sondern erleben auch eine beispiellose Verstädterung der Armut. In den meisten Städten der Entwicklungsländer lebt bis zur Hälfte der Bevölkerung in Slums und illegalen Wohnquartieren, die keinerlei Dienstleistungen von den städtischen Behörden erhalten. Diese wild gewachsenen Stadteile kommen nicht in den Genuß der Vorzüge des städtischen Lebens, wie den Zugang zu Grundversorgungsdiensten, Gesundheitsfürsorge, sauberes fließendes Wasser. Die Bewohner leben in ständiger Angst vor der Zwangsräumung und die meisten haben keinen Zugang zu günstigen Krediten, mit deren Hilfe sie ihre Lebensumstände verbessern könnten. Und doch ist diese unsichtbare Mehrheit für die Wirtschaft der Städte unverzichtbar.

Der andere Teil der Stadtbewohner, die „formelle Stadt“, genießt alle Vorzüge des Stadtlebens, oft auf Kosten ihrer weniger glücklichen Mitbewohner, der „informellen Stadt“. Dieses moderne Phänomen, daß hier zwei Städte in einer Stadt leben, gehört zu den größten Defiziten der urbanen Revolution, da es einen Teil der städtischen Bevölkerung vom anderen entfremdet und an den Rand der Gesellschaft drängt.

Doch trotz all ihrer Probleme und Herausforderungen wachsen die Städte weiter. Die Geschichte hat gezeigt, daß alle Versuche, die Verstädterung einzudämmen, fehlgeschlagen sind. Man geht heute davon aus, daß die Urbanisierung nicht nur unvermeidlich ist, sondern sogar eine positive Entwicklung darstellt. Es gibt Städte, weil sie Chancen bieten und die Hoffnung auf ein besseres Leben. In den Städten kann man menschliche, wirtschaftliche und technische Ressourcen zu größtmöglichem Nutzen bündeln. Gut funktionierende Städte sind auch eine Voraussetzung für die erfolgreiche ländliche Entwicklung.

Aber unzulängliche Staatsführung und schlechte Politik haben in vielen Städten weltweit zu ernsten Umweltschäden und zu immer schlechteren Lebensbedingungen geführt. Ohne Zweifel verfügen die Städte über Möglichkeiten, all ihren Bürgern Sicherheit und Gesundheit zu gewährleisten. Die größte Herausforderung bildet dabei die soziale Dimension der urbanen Armut, die es mit Hilfe neuer Strategien und Ansätze im Management städtischer Regionen, sowie durch innovative Methoden zur Verbesserung der Umwelt und der Infrastruktur zu bekämpfen gilt.

Offensichtlich mangelt es vielen Regierungen noch an der ausreichenden Bereitschaft und den erforderlichen Mitteln, um Planung und Vorbereitung für eine urbanisierte Welt in Angriff zunehmen. Der 1996 in Istanbul abgehaltene Städtegipfel schlug sich mit diesem Problem herum und kam zu dem Schluß, daß die Last der urbanen Herausforderungen nicht nur bei den Regierungen liegen dürfe, sondern daß auch andere städtische Akteure wie lokale Behörden und Zivilgesellschaft, darunter auch Nichtregierungsorganisationen und die Privatwirtschaft tätig werden müssen. Dieser umfassende Ansatz soll sicherstellen, daß keine urbane Gruppe im Entscheidungsfindungsprozeß ausgelassen wird und daß alle Bewohner gleiche Rechte gegenüber der Stadt haben.

Wie die Konferenz in Istanbul zeigte, wollen die städtischen Bürger gesehen und gehört werden, und sie wollen ihr unmittelbares Lebensumfeld selbst bestimmen. Die städtischen Armen, die im 21. Jahrhundert die Mehrheit der Stadtbewohner stellen werden, sollten gehört werden und darüber mitentscheiden können, wo und wie sie leben.

Viele Länder verfügen zwar weder über die finanziellen Mittel noch über die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, um auf die rasche Urbanisierung reagieren zu können, aber viele örtliche Behörden haben bereits begonnen, diesen neuen Ansatz zu übernehmen und offenere, transparentere Stadtverwaltungen einzuführen, die über ihre Tätigkeit auch Rechenschaft ablegen müssen. Effiziente Stadtverwaltungen verlassen sich weniger auf Prozesse, die von oben nach unten verlaufen und vorgegebene Entwürfe und Planungen durchziehen, als auf interaktive, dynamische Prozesse, die auf Partnerschaften beruhen.

Noch weiter gefördert werden diese Entwicklungen durch den zunehmenden Trend zur Dezentralisierung, durch die sich Aufgaben und Arbeitsmethoden örtlicher Behörden grundlegend geändert haben. Demokratische Debatte und partizipatorische Entscheidungsfindung haben in so manchen Stadträten und Bezirksverwaltungen neue Wege bei der Planung und Verwaltung ihrer Städte eröffnet. Durch die Einbeziehung aller Bürger, ob reich oder arm, Mann oder Frau, in die Festlegung der Stadtplanung können die städtischen Behörden ein Gefühl von Teilhabe und Mitverantwortung bei allen Stadtbewohnern schaffen. Auf diese Weise kann es gelingen, daß die Städte der Zukunft wirklich Städte für alle werden.

Die Zukunft der Menschheit liegt in den Städten. Wenn wir jetzt handeln, können aus Städten der Verzweiflung Städte der Hoffnung und der Freude werden.