Ein Internationaler Balanceakt / von Kofi Annan, Generalsekretär der Vereinten Nationen — Gastkommentar in der New York Times, 19. Januar 1999

Mit dem Eintritt der Vereinten Nationen in ein neues Jahrhundert voller Herausforderungen, müssen wir neue Wege finden, um die uralten Feinde von Frieden und Wohlstand zu besiegen. Dabei kommt dem Generalsekretär aufgrund der Charta der Vereinten Nationen, aufgrund der Geschichte und aufgrund des von den Mitgliedstaaten in ihn gesetzten Vertrauens eine zentrale Rolle zu.

Ich glaube daher, daß unsere Freunde wie unsere Kritiker die Vereinten Nationen und mein Amt danach beurteilen sollten, was Isajah Berlin einen „Blick für Realitäten“ nannte. Darunter verstehe ich eine realistische Wertung der Möglichkeiten, Grenzen und Zuständigkeiten der Organisation und des Amtsinhabers.

Vor allem aber heißt das anzuerkennen, daß das Amt des Generalsekretärs nur so lange die Interessen aller Staaten vertreten kann, solange es nicht den Anschein hat, er würde nur den engen Interessen eines Staates oder einer Staatengruppe dienen. Das ist ein heikler Balanceakt, der das Amt, die Stärke, die Schlagkraft und die moralische Autorität jedes Generalsekretärs bestimmt.

Im Laufe von mehr als 50 Jahren geopolitischen Wandels, mußte jeder Generalsekretär vor mir diese Balance halten. Manchmal ist man versucht, bei einem besonderen Übergriff den eigenen Gefühlen der Empörung freien Lauf zu lassen, vor allem, wenn man damit von mancher Seite politischen Beifall ernten würde. Aber damit würde der Generalsekretär seine Möglichkeiten gefährden, wirkungsvoll einzugreifen, um Aggressionen zu verhindern und den Frieden zu erhalten. Das ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Integrität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Amtes sind zu wichtig, um so leichtfertig geopfert zu werden.

Das Ende des Kalten Krieges hat den moralischen Anspruch an die Rolle des Generalsekretärs verändert. Er kann jetzt die Vereinten Nationen in den Dienst der universellen Werte der Charta stellen, ohne auf Ideologien oder besondere Interessen Rücksicht zu nehmen. In meinen zwei Jahren als Generalsekretär habe ich mich bemüht, diese Rolle auf zweifache Weise zu erfüllen:

Erstens habe ich mich bemüht, für die allgemeinen Menschenrechte einzutreten und die Opfer von Aggression oder Gewalt zu verteidigen, wo immer sie auch waren. Für die Amerikaner gilt das Amt des Präsidenten als eine “hervorrangende Kanzel“, zumindest seit den Tagen von Theodor Roosevelt. Ich habe mich bemüht, das Amt des Generalsekretärs ebenfalls zu einer Kanzel zu machen. Von New York bis Teheran, von Harare bis Schanghai war ich bestrebt – ohne konkrete Regime oder Personen anzugreifen – dieses Amt als Instrument zu nutzen, um Toleranz, Demokratie, Menschenrechte und gute Regierungsform zu fördern, die ich für universelle Werte halte.

Zweitens, habe ich mein Amt dazu genutzt, um eine Brücke zwischen zwei oder mehreren Parteien zu schlagen, wo immer ich eine Chance zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten sah. Ich habe dazu viele Missionen unternommen und mich nicht nur den Zweifeln anderer, sondern auch meinen eigenen Zweifeln ausgesetzt. Es gab Zeiten, da war ich hinsichtlich der wahren Absichten eines Staatsmannes genauso skeptisch wie jeder andere, und wenn ich mich in ein Kriegsgebiet begab, hatte ich keinerlei Illusionen über die Aussichten auf Frieden oder den Preis eines Fehlschlags.

Aber ich habe an meiner Aufgabe festgehalten, denn die Welt ist, wie sie ist, und nicht wie ich sie gerne hätte. Ich muß dieser Welt mit einem Blick für Realitäten gegenübertreten und wissen, wie weit ein Staatsmann mit friedlichen Mitteln gebracht werden kann und wie lange es dauert, bis aus Krieg Frieden wird.

Aber heißt das, daß ich oder irgend jemand anderer in meiner Position moralisch blind sind? Kann ein Generalsekretär nicht Gutes von Bösem, nicht Opfer von Aggressor unterscheiden? Natürlich kann er das, und genau aus diesem Grund muß er an seiner Aufgabe festhalten, denn allzu oft profitiert der Aggressor und nicht das Opfer von der Isolierung oder Aufgabe durch die internationale Gemeinschaft. Unparteilichkeit ist und darf nicht Neutralität angesichts des Bösen meinen. Vielmehr bedeutet Unparteilichkeit, die Grundsätze der Charta strikt und unvoreingenommen einzuhalten – nicht mehr und nicht weniger.

Von den Missionen, die ich im Vorjahr unternommen habe, barg keine andere so viele Risiken für mein Amt und für die Vereinten Nationen wie die in den Irak. Vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen dem Irak und dem Sicherheitsrat fuhr ich im vergangenen Februar nach Bagdad, mit dem Ziel, einen Weg aus der Sackgasse zu finden und die Rückkehr der Sonderkommission der Vereinten Nationen (UNSCOM) zu ihrer wichtigen Aufgabe der Beseitigung irakischer Massenvernichtungswaffen zu ermöglichen. Für einen kurzen, aber entscheidenden Augenblick hielt sich der Irak wieder an die UNO-Beschlüsse und die UNSCOM-Inspektoren konnten Orte betreten, deren Zugang ihnen zuvor mehr als sieben Jahre lang verwehrt worden war. Ich sage „für einen kurzen Augenblick“, denn der Irak beschloß danach, der UNSCOM neue Hindernisse in den Weg zu legen, was nicht nur eine flagrante und zutiefst Besorgnis erregende Verletzung der von mir mit Bagdad geschlossenen Übereinkunft, sondern auch eine Mißachtung der seit langem bestehenden Verpflichtungen des Irak gegenüber dem Sicherheitsrat darstellte.

Seither sind wir von einer Krise in die andere gestolpert, die nur durch flüchtige Momente der Zusammenarbeit zwischen der irakischen Regierung und der UNSCOM unterbrochen wurden. Dieses Hin und Her gipfelte in den Luftangriffen des vergangenen Monats. Ohne Zweifel sind wir jetzt an einem kritischen Punkt angelangt: Wir müssen uns entscheiden zwischen dem Einsatz von Gewalt oder der friedlichen Regelung, um die ich mich immer bemüht habe; zwischen der Gewährleistung der Abrüstung des Irak und der Gefahr, die sonst von diesem Land für die ganze Region ausgehen könnte; zwischen einer Zukunft, in der die schon so lange leidenden Menschen im Irak frei und ungehindert leben können, und einer weiteren Isolierung und Verarmung der Zivilbevölkerung, die keine Schuld an den Problemen ihres Landes trägt.

Die Mitglieder des Sicherheitsrates sind jetzt aktiv darum bemüht, einen Ausweg zu finden, einen Weg, der die Einheit des Rates wiederherstellen und dabei gleichzeitig die Abrüstung des Irak vorantreiben und das Leid der irakischen Bevölkerung lindern kann. Für jene, die sich noch an die Tage des Kalten Krieges erinnern, wäre die Einheit des Rates in einer so wichtigen Frage ein bedeutendes Erfolgssignal. Deshalb ist der Irak auch eine so vordringliche Angelegenheit für mich als Generalsekretär, denn ein gespaltener Sicherheitsrat kann, wie die Vergangenheit lehrt, die Vereinten Nationen lähmen. Ich muß und will daher alles in meinen Kräften Stehende tun, um das zu verhindern.

Mit welchen Mitteln ich mich auch immer um die Irakfrage bemüht habe, meine Ziele standen immer außer Frage, nämlich die uneingeschränkte Einhaltung aller einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates, die Abrüstung des Irak, die Wiedereingliederung seiner Bevölkerung in die internationale Gemeinschaft, die Sicherung der Stabilität in der Region und die Gewährleistung der Durchschlagskraft der Vereinten Nationen als Garant des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Aufgrund unserer bisherigen Arbeit, unserer Grundsätze, der Charta und meiner Amtspflichten bin ich verpflichtet, diese Ziele im Wege friedlicher Diplomatie zu erreichen.

Letztendlich aber spiegelt der Friede, den wir in Irak wie anderswo erreichen wollen, die Erfahrungen unseres schrecklichen Jahrhunderts wider: Kein Friede kann echt oder von Dauer sein, wenn er um jeden Preis errungen wird. Nur ein Friede in Gerechtigkeit kann den Opfern von Krieg und Gewalt gerecht werden. Ohne Demokratie, Toleranz und Menschenrechte für alle gibt es keinen wirklich sicheren Frieden.

Diese Erfahrungen wo immer und wann immer möglich anzuwenden ist die höchste Aufgabe und vornehmste Pflicht des Generalsekretärs – gegenüber sich selbst, gegenüber seinem Amt und gegenüber den Vereinten Nationen. Mein großer Vorgänger Dag Hammarskjöld sagte einmal, daß es „nicht um einen Mann sondern um eine Institution„ ginge. Deshalb, um der Vereinten Nationen und der Hoffnungen und Erwartungen willen, die seit mehr als einem halben Jahrhundert in sie gesetzt wurden, müssen wir Erfolg haben.