Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali: Die Integration der Übergangsländer in die Weltwirtschaft

UNIC/19

Rede vor dem XI. Malenter Symposium in Lübeck

LÜBECK, 17. Oktober 1996 (UN-Informationszentrum) – Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali hält vor dem XI. Malenter Symposium über “Übergangsländer und globale Märkte: Eine Herausforderung für die Internationalen Wirtschaftsorganisationen“ heute in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle nachstehende Rede:

Ich freue mich sehr, hier in Lübeck zu sein – einer Stadt, die in Vergangenheit und Gegenwart eine Quelle der Inspiration für die Vereinten Nationen ist. Diese geschichtsträchtige Stadt hat immer über ihre Stadtgrenzen hinausgeblickt und verstanden, daß Frieden, Wohlstand und Fortschritt weltweit miteinander verknüpft sind.

Die von den verschiedenen Städten der Hanse unter der Führung Lübecks praktizierte Zusammenarbeit und Beratung zum gegenseitigen Nutzen ist ein Vorbild für heutige Regierungen. Die Hanse knüpfte ein Netz kaufmännischer und politischer Kontakte, das große Regionen einander näherbrachte und den internationalen Handel als ein Bindeglied zwischen Ost und West stärkte.

Diese Leistung findet ihren symbolhaften Ausdruck in der historischen Altstadt Lübecks, die von der UNESCO zu einem wichtigen Teil des Kulturerbes der Welt erklärt wurde. Somit ist es mehr als angemessen, daß in dieser Stadt und bei diesem Symposium eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit aufgegriffen wird: die Integration der Übergangsländer in die Weltwirtschaft.

Die ganze Welt und die gesamte menschliche Gesellschaft befinden sich derzeit in einer Übergangszeit, die alle Weltgegenden und alle Daseinsbereiche erfaßt. Der Übergang, den zu erörtern und voranzubringen Sie hierhergekommen sind, ist jedoch bisher beispiellos in seiner Art.

Für den Übergang von zentralen Planwirtschaften zu einem marktorientierten Wirtschaftssystem gibt es weder Präzedenzfälle noch in der Praxis erprobte Theorien, die den betroffenen Ländern den Weg weisen könnten. Wir alle betreten hier Neuland.

Am sichtbarsten sind wohl heute, nach dem Vollzug des politischen Umbruchs, die wirtschaftlichen Aspekte des Übergangs. Doch sollten wir nicht vergessen, daß die wirtschaftliche Transformation nicht allein von ökonomischen Überlegungen getragen war. Sie war ein komplexer Prozeß, der soziale, politische, sicherheitspolitische, humanitäre und kulturelle Aspekte ebenso umfaßte wie die wirtschaftlichen. Dies hat Auswirkungen von großer Tragweite, was die Rolle der Vereinten Nationen angeht.

Die Vereinten Nationen als eine Familie von Institutionen, welche die Zusammenarbeit in nahezu allen Bereichen menschlichen Handelns abdecken, sind wie sonst keine andere Instanz geeignet, sich mit den einzelnen Teilaspekten des Übergangs in der ganzen Komplexität ihrer Wechselbeziehungen zu befassen.

Aus diesem Grunde möchte ich Ihnen heute in großen Zügen auseinandersetzen, wie sich der Übergangsprozeß nach meinem Verständnis darstellt und welche Rolle die Vereinten Nationen aus meiner Sicht dabei spielen können.

Zunächst bestand Ungewißheit darüber, wie sich die politischen Veränderungen, die 1989 in diesem Teil der Welt stattfanden, auf andere Teile der Weltgemeinschaft auswirken würden. Die erste Herausforderung, die sich stellte, bestand darin, die internationale Gemeinschaft im Interesse eines friedlichen Übergangs zu mobilisieren. Es war bisher noch nie dagewesen, daß sich Länder mit zentralen Planwirtschaften für die Übernahme eines marktorientierten Systems entschieden hatten. Es gab keine bewährten Theorien, auf die man hätte zurückgreifen können, die den Weg zum praktischen Vollzug des Übergangs wiesen. Es gab nur große Hoffnungen, sowohl in den betroffenen Ländern als auch in der internationalen Gemeinschaft.

Um sich der Herausforderung dieses friedlichen Übergangs zu stellen, waren die Vereinten Nationen unter tatkräftiger Mitwirkung mehrerer Mitgliedstaaten dabei behilflich, in einigen Republiken des ehemaligen Jugoslawien sowie in Georgien Frieden zu schaffen und den Frieden zu sichern.

Die zweite Herausforderung für die Vereinten Nationen bestand darin, ein Forum für den Dialog zu bieten, um gemeinsame Werte zu vermitteln, das gegenseitige Verständnis zu stärken und die praktische Zusammenarbeit zwischen den Übergangsländern und der Weltgemeinschaft zu fördern.

Zu Zeiten des Kalten Krieges ließen sich die Länder in drei Gruppen einteilen: Marktwirtschaften, zentrale Planwirtschaften und Entwicklungsländer. Schrittweise übernahmen die Entwicklungsländer jedoch die Grundgedanken entweder des einen oder des anderen Wirtschaftsmodells – Güterallokation durch die Marktkräfte oder Allokation mittels zentraler Entscheidungen – und paßten sie, mit unterschiedlichem Erfolg, an die eigene Situation an. Mit dem Ende des Kalten Krieges jedoch komplizierte sich diese Einteilung der Wirtschaftssysteme der Welt in drei getrennte Gruppen weiter.

Drei weitere Arten von Wirtschaftsordnung traten zutage. Mittlerweile sehen wir in der Welt im wesentlichen vier Arten von Wirtschaftssystemen: marktwirtschaftlich geprägte Länder, Länder im Übergang von einer zentralen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, Entwicklungsländer im Übergang zur Marktwirtschaft und Länder, deren wirtschaftliche Prioritäten den Übergang von der Krisenwirtschaft (beispielsweise aufgrund eines Bürgerkriegs) zu einer stabilen Marktwirtschaft widerspiegeln.

Mit anderen Worten, der weitaus größte Teil der Welt durchläuft einen Übergangsprozeß zur Marktwirtschaft, doch variieren mit den unterschiedlichen historischen Besonderheiten auch die Umstände, unter denen sich dieser Übergang vollzieht.

Das Problem kompliziert sich weiter durch die Verschiebung des angestrebten Ziels. Die Marktwirtschaft der neunziger Jahre ist nicht die Marktwirtschaft der fünfziger oder sechziger Jahre. Heute sehen wir uns insbesondere im Bereich der Finanzströme, der Produktionsentscheidungen, der Informationsnetze und der Absatzgebiete einer in zunehmendem Maße globalisierten Wirtschaft gegenüber. Somit befinden sich alle Länder im Übergang zu einer immer globaleren Wirtschaft. Dies bedeutet eine Herausforderung für alle, und eine zusätzliche Komplikation für Volkswirtschaften, die die Art der Güterallokation zu ändern suchen.

Ferner ist für den wirtschaftlichen Übergang kennzeichnend, daß er in vielen Fällen mit einem gleichermaßen einschneidenden politischen Übergang von einem Einparteien- zu einem Mehrparteiensystem einherging.

Die im Übergang befindlichen Gesellschaften haben daher gleich eine mehrfache Belastung zu bewältigen: den Übergang von einem politischen System zum anderen, von einem Wirtschaftssystem zum anderen und von einem lokalen oder regionalen zu einem globalen Wirtschaftssystem. Erschwerend kommt hinzu, daß diese verschiedenen Übergänge mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen und mit unterschiedlichen Zwängen verbunden sind. Der Druck, dem sich die Gesellschaft dabei ausgesetzt sieht, ist daher beträchtlich.

Ebenso, wie sich das Ziel der Marktwirtschaft verschoben hat, hat sich auch das politische Ziel geändert. Während die Länder darangehen, ihr inneres politisches System umzugestalten, sehen sie sich gleichzeitig vor die Herausforderung gestellt, mit einem in raschem Wandel begriffenen internationalen politischen System in Beziehung treten zu müssen. Für viele der neuen unabhängigen Staaten ist dies ein aufregender, wenn auch schwieriger Prozeß – insbesondere jetzt, wo im bisherigen internationalen politischen System neue Handlungsträger auftreten, wie die Geschäftswelt, bedeutende Städte, nichtstaatliche Organisationen und die Regionalorganisationen.

Dies also sind die Herausforderungen der Übergangsperiode, in der sich die ganze Welt befindet. Die Stränge dieses Übergangs sind so miteinander verwoben, daß er nicht nur für die Übergangsländer, sondern für die gesamte internationale Gemeinschaft zur Herausforderung geworden ist.

Ein neues internationales System ist im Heranreifen begriffen. Zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist es die historische Mission der Vereinten Nationen, dieses neue System zum Leben zu erwecken, seine positiven Aspekte zu stärken und die neuen Mitwirkenden in diesem System zu unterstützen. Die Zeiten verlangen nach einer internationalen Zusammenarbeit in einem bisher nie dagewesenen Grad: einem neuen Multilateralismus.

Dieser neue Multilateralismus umfaßt Akteure wie den Privatsektor und die nichtstaatlichen Organisationen. Die Hanse früherer Zeiten war eine der erfolgreichsten nichtstaatlichen Organisationen der Geschichte. Wie die Vereinten Nationen mußte auch sie sich wandeln und mit der Zeit gehen. Die heutigen “Hanse-Tage“ sind ein glänzendes Beispiel für eine solche Anpassung. Viele Aspekte des neuen Multilateralismus verlangen nach einer erweiterten Rolle der Vereinten Nationen.

Die Vereinten Nationen haben darauf hingearbeitet, die durch das Ende des Kalten Krieges ungelöst gebliebenen Konflikte zu beenden. In Mosambik, in Kambodscha und in Nicaragua haben sie versucht, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen und den Übergang in die Ära nach dem Kalten Krieg in die Wege zu leiten. Dies ist nicht leicht gewesen, und dort, wo wir den Krieg beenden konnten, arbeiten wir immer noch an der Konsolidierung des Friedens. In Angola und in Afghanistan sehen sich die Vereinten Nationen einer äußerst schwierigen Aufgabe gegenüber, doch bin ich zuversichtlich, daß wir auch dort den Kalten Krieg werden beenden können.

Die Vereinten Nationen können den Übergang zu einem Mehrparteiensystem innerhalb eines Landes unterstützen. Im Jahr 1992 richtete ich am Amtssitz der Vereinten Nationen die Gruppe Wahlhilfe ein, die für Länder, die um Wahlhilfe ersuchen, entsprechende Maßnahmen erarbeiten und diese koordinieren soll. Allein im vergangenen Jahr sind fünfundzwanzig Anträge auf Wahlhilfe der Vereinten Nationen eingegangen. Aserbaidschan, Haiti und Sierra Leone sind nur die bemerkenswertesten Beispiele für die Wahlhilfe, welche die Vereinten Nationen während des vergangenen Jahres geleistet haben.

Durch die Einrichtung von Landesbüros der Vereinten Nationen in verschiedenen Ländern gelangen diese in den Nutzen einer koordinierten Zusammenarbeit nicht nur mit den Vereinten Nationen selbst, sondern auch mit den verschiedenen Organisationen des gesamten VN-Systems.

Insbesondere in den neuen unabhängigen Ländern bieten solche Büros im Übergang befindlichen Ländern Dienste im Bereich der Entwicklung, der Liberalisierung der Wirtschaft, der politischen Hilfe und der Unterstützung im Informationsbereich sowie Hilfe bei der Eingliederung in das internationale System. Durch ihre Landesbüros leisten die Vereinten Nationen auch Hilfestellung bei der Bewältigung konkreter Probleme des politischen Übergangs, wie dem Schutz und der Wiederansiedlung von Flüchtlingen und vertriebenen Bevölkerungsgruppen.

Am wichtigsten dabei ist jedoch, daß die Vereinten Nationen, indem sie ein Beziehungsgeflecht zwischen der internationalen Gemeinschaft und den Übergangsländern schaffen, ihnen auf diese Weise behilflich sind, ein integraler Teil des internationalen Systems zu werden.

Die schrittweise Eingliederung der Übergangsländer in die Europäische Union ist in dieser Hinsicht von grundlegender Bedeutung. Deutschland hat bereits einen großen Teil der damit verbundenen Last auf sich genommen, indem es den Übergangsländern bei der schwierigen Transformation zentraler Planwirtschaften zu Marktwirtschaften Beistand geleistet hat. Die Vereinten Nationen unterstützen durch ihre Regionalkommissionen die Übergangsländer auf nationaler und auf regionaler Ebene bei ihren Entwicklungsanstrengungen. Über die Regionalkommissionen können die Übergangsländer technische Hilfe bei der Einhaltung gemeinsamer Normen in Bereichen wie Handel, Transport- und Informationswesen erhalten.

Die VN-Wirtschaftskommission für Europa (ECE) ist den Übergangsländern mittels eines standardisierten elektronischen Datensystems, dessen englische Abkürzung “EDIFACT“ für die Begriffe Verwaltung, Handel und Transport steht, dabei behilflich, die Abwicklung von Ein- und Ausfuhren zu vereinfachen.

Seit Ende 1990 war die ECE an der Veranstaltung von fast 200 Aus- und Fortbildungsseminaren über Fragen beteiligt, die für den Übergangsprozeß von Bedeutung sind. Seit Juli 1994 hat das ECE-Regionalprogramm für Beratende Dienste über 140 Missionen in die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, nach Mittel- und Osteuropa, in die baltischen Staaten und in die Geberländer unternommen. Die Hilfe für Georgien gipfelte in der Ausarbeitung einer mittelfristigen Strategie für wirtschaftlichen Wiederaufbau, Gesundung und Reform. Ein ähnliches Programm wird zur Zeit in Tadschikistan durchgeführt.

Die Wirtschafts- und Sozialkommission für Asien und den Pazifik (ESCAP) hat ihre Unterstützung der Übergangsländer fortgesetzt. Diese Unterstützung umfaßte einzelstaatliche Workshops zur makroökonomischen Reform in den zentralasiatischen Republiken, die Mobilisierung von Finanzmitteln aus dem Privatsektor für die Infrastrukturentwicklung in Indochina und die Hilfe für Länder wie Usbekistan und Vietnam bei der Aufstellung makroökonomischer Simulationsmodelle.

Durch die Abhaltung internationaler Konferenzen und Tagungen sowie im Rahmen der laufenden Arbeit der zwischenstaatlichen Organe der Vereinten Nationen in den neunziger Jahren wurden die neuen unabhängigen Staaten und die Übergangsländer am gesamten Tätigkeitsspektrum der Organisation beteiligt. Zusätzlich konnten diese Länder bei den friedensichernden Tätigkeiten der Vereinten Nationen eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Neben dem Eigenwert dieser Tagungen und der Beteiligung an der Friedenssicherung dienen diese auch als Foren, die den neuen unabhängigen Ländern helfen, aktive Mitwirkende der internationalen Gemeinschaft zu werden.

Ich möchte diese Rede schließen, indem ich auf meine frühere Bemerkung zurückkomme: Nicht nur die Länder Osteuropas oder Zentralasiens sind Übergangsländer. Auch in Afrika, in Lateinamerika und in Asien unternehmen Länder ungeheure Anstrengungen, um ihre Volkswirtschaften umzugestalten und sich an die neuen Gegebenheiten der im Globalisierungsprozeß begriffenen Weltwirtschaft anzupassen.

Diese Länder tragen jedoch die Last der Verschuldung, eines rückläufigen Anteils am Welthandel und geringer ausländischer Investitionen. Die Vereinten Nationen helfen diesen Ländern, ein günstigeres Investitionsklima zu schaffen und ihre Wirtschaftssysteme so zu reformieren, daß sie effiziente Beiträge zur Weltwirtschaft leisten können.

Noch während wir den Übergangsprozeß durchlaufen, der das Ende des Kalten Krieges gekennzeichnet hat, steht die Welt schon am Anfang eines neuen Übergangs. Es handelt sich dabei um den Übergang von einem Nord-Süd-System, in dem Staaten und Völker durch eine wachsende Kluft voneinander getrennt werden, zu einer Ära der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und einer neuen multilateralen Entwicklungsdiplomatie.

Die materiellen Aspekte der Transformation sind zwar erheblich, doch sind sie nicht die wichtigsten. Höherer Lebensstandard und Demokratisierung sind nur Werkzeuge. Das wahre Ziel des Übergangsprozesses ist die Befähigung des einzelnen Bürgers zu Selbstbestimmung und Teilhabe. Dies setzt Wissen und die Freiheit voraus, davon Gebrauch machen zu können. Die Bürger brauchen Zugang zu Informationen und ein für alle zugängliches Bildungssystem. Gesundheit und Bildung sind von grundlegender Bedeutung – sowohl an sich als auch für das Funktionieren der Wirtschaft. Der Übergang von der zentralen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft kam für uns ganz plötzlich, quasi überraschend. Der erste Teil der Transformation – der Abbruch des alten Systems und die Grundsteinlegung für das neue – ist für viele europäische Länder vermutlich bereits abgeschlossen. Die Antworten auf die Herausforderungen der nächsten Phase werden jedoch ganz entscheidend dafür sein, welche Gestalt der gewählten Marktwirtschaftsform gegeben wird und wie der Erfolg des wirtschaftlichen Wachstums beschaffen sein wird.

Wir müssen heute für die Umgestaltung von Volkswirtschaften und Gesellschaften in der gesamten Weltgemeinschaft vorbereitet sein. Wir müssen in der Lage sein, dem Wandel in der Art, wie Nord und Süd miteinander umgehen, Gestalt und Richtung zu geben.

Die Vereinten Nationen waren für diese großangelegte Umgestaltung schon bisher unerläßlich und werden dies auch in Zukunft sein. Sie sind eine wunderbare Einrichtung, die allen Völkern der Vereinten Nationen zu Diensten steht.