Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali: Vereinte Nationen – Die Verkörperung der internationalen Zusammenarbeit Heute und in der Zukunft

UNIC/21

Vortrag vor dem Übersee-Club, Hamburg

HAMBURG, 18. Oktober 1996 (UN-Informationszentrum) – Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali hält heute vor dem Übersee-Club im Börsensaal der Handelskammer Hamburg nachstehenden Vortrag:

Hier in Deutschland nahm vor nahezu sieben Jahren eine der größten weltweiten Auseinandersetzungen in der Geschichte ihr Ende. Mit dem Fall der Berliner Mauer war die jahrzehntelange Konfrontation des Kalten Krieges vorüber. Die Welt war beglückt über den Anbruch des neuen Zeitalters.

Heute leben wir nicht länger in der akuten Gefahr einer nuklearen Verwüstung der Welt. In dieser Hinsicht ist die Welt ohne Zweifel sicherer geworden.

Doch steht die Welt heute vor einer neuen Bedrohung. Fragmentation kann die Bevölkerungsgruppen einer Nation miteinander entzweien. Sie kann die Solidarität der Menschen miteinander untergraben. Sie kann zu einem Rückzug in die innere Isolation führen. Sie kann verursachen, daß wir die große Bedeutung unserer gemeinsamen internationalen Institutionen nicht mehr erkennen.

Es gibt heute Kreise, die die Vereinten Nationen kritisieren, ihre Errungenschaften negieren und damit drohen, sie in die Bedeutungslosigkeit abzudrängen.

Die Vereinten Nationen blicken indessen auf mehr als 50 Jahre im Dienste der Menschheit zurück.

Für die vom Kolonialismus Unterdrückten waren die Vereinten Nationen ein Wegweiser zur Freiheit. Im Schoße der Vereinten Nationen konnten Völker, die erst wenig zuvor ihre Unabhängigkeit errungen hatten, den ihnen zustehenden Platz auf der Weltbühne – innerhalb des Systems souveräner Staaten – einnehmen und sich willkommen und unterstützt fühlen.

Staaten in Konfliktsituationen fanden in den Vereinten Nationen einen neutralen und unparteiischen Vermittler, dem mit der Friedenssicherung ein wertvolles Instrument an die Hand gegeben war. Flüchtlinge fanden Nahrungsmittel, Kleidung und Unterkunft. Kinder fanden Schutz vor Hunger und Krankheit. Ganze Gesellschaften fanden Unterstützung für ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

Für alle Völker artikulierten und förderten die Vereinten Nationen die Menschenrechte. Sie traten für das Völkerrecht ein und förderten seine fortschreitende Entwicklung. Sie bildeten ein Forum, in dem alle Staaten auf der Grundlage der Souveränität und Gleichheit zusammenkommen konnten, um zu Themen von globaler Tragweite einen Konsens zu erzielen, so etwa auf dem Gebiet der Abrüstung, der Umwelt und der Förderung der Frau. Sie boten einen Rahmen, in dem Konsens in konkrete Verpflichtungen und gemeinsame Maßnahmen umgesetzt werden konnte.

Betrachten wir das Erreichte. Mit den Vereinten Nationen verfügen wir nicht nur über ein Forum für multilaterale Weltdiplomatie, sondern auch über ein einzigartiges Instrument für die Verwirklichung des kollektiven Willens ihrer Mitgliedstaaten. Mit den Vereinten Nationen verfügt die Welt über eine Organisation von entscheidender Bedeutung für die Zukunft. Die Vereinten Nationen sind viel zu kostbar, um zum Sündenbock gestempelt zu werden, wenn es bei der internationalen Zusammenarbeit Rückschläge zu verzeichnen gibt.

Was bei der Diskussion um die Vereinten Nationen auf dem Spiel steht, geht jedoch weit über die Vereinten Nationen selbst hinaus. Es geht vielmehr um ein ganzes Spektrum von Dingen, die auf internationaler Ebene erreicht worden sind beziehungsweise angestrebt werden. Auf dem Spiel steht das, was sich in der Zukunft als das bedeutendste Unternehmen des zwanzigsten Jahrhunderts erweisen wird: das Unternehmen der internationalen Zusammenarbeit.

Das Unternehmen der internationalen Zusammenarbeit hat vor über drei Jahrhunderten seinen Anfang genommen. Im zwanzigsten Jahrhundert sind jedoch die größten Fortschritte zu verzeichnen, was internationale Systeme, Institutionen, Leitsätze und Vereinbarungen im Interesse des gemeinsamen Wohls der gesamten Menschheit angeht.

Betrachten wir einmal die vier Schlüsselelemente dieses Unternehmens: das Konzept der kollektiven Sicherheit, den Gedanken der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte, die immer breitere Geltung des Völkerrechts und die Anerkennung der Rolle der bestandfähigen Entwicklung.

Das Konzept der kollektiven Sicherheit wurde als Alternative zu der Großmachtpolitik eines kalkulierten Kräftegleichgewichts entwickelt und verfolgt, einer alten und inhärent gefährlichen Methode der Wahrung der internationalen Stabilität. Das Ziel wäre, eine weltweite Lastenteilung für den Frieden herbeizuführen. Alle Staaten hätten Anteil an einem gemeinsamen System, das nicht nur geschaffen wurde, um Angriffshandlungen rückgängig zu machen, sondern auch, um Angriffe und andere Bedrohungen des Friedens zu verhüten.

Der Gedanke der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte ging vom Menschen aus, dem einzigen Rechtsträger in den internationalen Beziehungen, der sich nicht weiter unterteilen läßt, und machte die Achtung der ihm innewohnenden Würde zur Grundlage von Frieden und Freiheit für alle Völker. Diese Grundlage ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte durch den stetig voranschreitenden Prozeß der Konsensbildung gefestigt worden. Die zu schützenden Rechte und Gruppen wurden mit der kontinuierlichen Verbesserung der internationalen Instrumente zur Gewährleistung eines solchen Schutzes immer klarer abgegrenzt.

Das Völkerrecht entstand vor etwa dreieinhalb Jahrhunderten als Grundlage für ein stabiles und ausbaufähiges Beziehungssystem zwischen den Staaten. Durch die Bemühungen um die breitere Geltung des Völkerrechts wird Macht und militärischer Stärke als Grundstein der internationalen Ordnung eine grundlegende Absage erteilt. Sie sind vielmehr darauf gerichtet, Überlegenheit vor dem Gesetz an die Stelle überlegener Stärke treten zu lassen und ein internationales Beziehungsgeflecht zu fördern, das von der Herrschaft des Rechts bestimmt ist.

Die internationale Entwicklungszusammenarbeit gilt heute als unverzichtbar für die Beseitigung der Ursachen von Entrechtung und Konfrontation. Durch die Nachwirkungen von Konflikten kann die Entwicklung behindert werden; ausbleibende Entwicklung wiederum kann neuen Konflikten Nahrung bieten. Die Herausbildung eines Konsenses über die Entwicklungszusammenarbeit eröffnet einen Weg, diesen Kreislauf durchbrechen und eine Entwicklung stärken zu helfen, die achtsam mit der Umwelt umgeht und langfristige Stabilität innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten ermöglicht.

Die Vereinten Nationen heute sind die Verkörperung dieses ambitionierten Unternehmens. Doch dieses große Unternehmen ist gegenwärtig in Gefahr.

Wir sehen heute auf internationaler Ebene gefährliche Anzeichen für ein Dahinschwinden von Mitmenschlichkeit, Solidarität und Gemeinsinn. Dabei sind die kollektive Sicherheit, die Menschenrechte, das Völkerrecht und die Entwicklungszusammenarbeit nicht die einzigen Grundpfeiler, die angegriffen sind. Noch grundlegendere Institute sind in Gefahr: der Staat; die Souveränität. Sogar das Konzept der allgemeingültigen Menschenrechte – alle werden in Frage gestellt.

Wenn zugelassen wird, daß die Vereinten Nationen untergehen oder der Bedeutungslosigkeit anheimfallen, ist das gesamte Unternehmen einer Weltgesellschaft unwiderruflich zum Scheitern verurteilt. Die Welt wird den Antrieb verlieren, Strukturen des Friedens, der Gerechtigkeit und des Wohlstands für alle Nationen und alle Völker zu schaffen.

Soll das Unternehmen indessen voranschreiten, so kann dies nur mit den Vereinten Nationen und durch sie erfolgreich geschehen.

Aus der augenblicklichen Phase des Reform- und Erneuerungsprozesses, der in den Vereinten Nationen bereits stattfindet, ist eine Zukunftsvision hervorgegangen, die unseren Bemühungen in der unmittelbar bevorstehenden Zeit eine Richtung geben kann.

Die Vereinten Nationen der Zukunft würden ein wirksames System der kollektiven Sicherheit bieten, dessen bloße Existenz schon ein wichtiger Beitrag zur Konfliktverhütung wäre. Letztere würde zum obersten Handlungsmaßstab. Alle Friedenssicherungseinsätze würden auf einer beständigen und verläßlichen Grundlage mit den erforderlichen Mandaten und Ressourcen ausgestattet. Es gäbe eine wirksame Arbeitsteilung mit regionalen Organisationen. Eine Art begrenzte, den Vereinten Nationen unterstellte oder von ihnen ermächtigte schnelle Eingreiftruppe wäre ständig einsatzbereit, um Gewalt entgegenzutreten, deren Bewältigung zwar eindeutig in internationalem Interesse und in der internationalen Verantwortung läge, aber von keinem einzelnen Staat und keiner Staatengruppe als Gegenstand des nationalen Interesses angesehen würde. Eine solche Eingreiftruppe wäre Teil eines neuen, vereinbarten Mechanismus, dessen Aufgabe es wäre, fehlgeschlagenen Staaten bei der Wiedereingliederung in die internationale Gemeinschaft zu helfen.

Auf dem Gebiet der Menschenrechte und auf humanitärem Gebiet würden nahezu alle Staaten bestehende Verträge und Pakte ratifizieren. Die Einrichtungen zur Durchsetzung der Menschenrechte würden gestärkt werden und wirksam arbeiten. Der Schutz des humanitären Völkerrechts durch die Rechtsprechung würde weiter ausgedehnt. Es gäbe eine gestärkte, systemweite Kapazität für Katastrophenfrühwarnung und -vorbeugung. Dadurch träten humanitäre Notsituationen seltener auf. Die Welt wäre den Bedingungen, unter denen die Menschenwürde wirklich aufblühen kann, ein gutes Stück nähergerückt.

Der Entwicklung würden die Aufmerksamkeit und die Ressourcen zuteil, die ihr gebühren. Die Beziehungen zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern würden sich grundlegend wandeln und Hilfeleistung würde durch Zusammenarbeit ersetzt. Die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen würden die wirksame Arbeitsteilung fortsetzen und verstärken, indem sie den sich derzeit herausbildenden grundsatzpolitischen Konsens unterstützen. Investitionen in den Menschen würden als Grundvoraussetzung des Fortschritts angesehen werden. Eine starke Zivilgesellschaft würde den Entwicklungsanstrengungen Form geben, sie unterstützen und an ihnen teilhaben. Soziale Gerechtigkeit innerhalb der Staaten und zwischen ihnen würde dafür sorgen, daß weitere materielle Fortschritte erzielt werden, ohne diejenigen auszugrenzen, die jetzt um ihr Überleben kämpfen. Die Natur bekäme die Gelegenheit, sich zu regenerieren. Wirtschaftliches Wachstum würde nicht nur dem materiellen Fortschritt dienen, sondern auch dazu, der Gesellschaft auf allen wichtigen Gebieten Wahlmöglichkeiten offenzuhalten. Ein Bekenntnis zur Demokratisierung würde schließlich als Schlüssel zu dauerhaftem Frieden angesehen werden, dem Eckstein jeder Entwicklung und der treibenden Kraft des Fortschritts in allen Bereichen.

Mit dem Voranschreiten der internationalen Demokratisierung würde auch der Demokratisierungsprozeß innerhalb der Staaten aufblühen. Eine den demokratischen Grundsätzen und Prozessen verbundene Staatengemeinschaft und erweiterte internationale Bürgergesellschaft würde sich herausbilden. Für diesen Demokratisierungsprozeß wären das Völkerrecht und die Ausweitung der internationalen Gerichtsbarkeit von entscheidender Bedeutung. Alle Staaten würden die allgemeine Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs anerkennen. Wenn einzelstaatliche Zwänge dem entgegenstünden, würden die Staaten eine Liste der Angelegenheiten vorlegen, die sie an den Gerichtshof zu überweisen bereit wären. Ein ständiger internationaler Strafgerichtshof würde eingerichtet.

Die Vereinten Nationen der Zukunft würden auch weiterhin eine zwischenstaatliche Organisation im Dienste ihrer Mitgliedstaaten und deren Bevölkerung bleiben. Zugleich jedoch würden sie ihre Strukturen immer mehr für Akteure, die keine Staaten sind, sowie für andere Vertreter der Zivilgesellschaft öffnen. Die Straffung des zwischenstaatlichen Apparats würde weitere Rationalisierungen auf institutioneller Ebene erlauben. Sonstige noch bestehende große Reformhindernisse würden durch Beschlüsse aus dem Weg geräumt, welche die Mitgliedstaaten zu wichtigen, ineinandergreifenden Fragen fassen. Dazu gehören die künftige Zusammensetzung und die Verfahren des Sicherheitsrats, ein überarbeiteter Beitragsschlüssel und verbesserte Mechanismen zur Einziehung der veranlagten Beiträge sowie die Begleichung der Schulden der Organisation für die Friedenssicherung. Die Hauptorgane der Vereinten Nationen würden in dem chartagemäßen Verhältnis zueinander ihre Aufgaben wahrnehmen. Zwischen den Schlüsselorganen des Systems, dem Sicherheitsrat, der Generalversammlung und dem Sekretariat, würde ein neues Gleichgewicht hergestellt. Und schließlich würden Schritte unternommen, die Beschäftigungsbedingungen – allen voran die Sicherheit der Bediensteten – so zu gestalten, daß die Vereinten Nationen auch weiterhin hochqualifizierte Bedienstete anziehen und halten und sich dank dieser Mitarbeiter immer effektiver in den Dienst der Menschheit stellen können.

Heute, hier in Deutschland, fordere ich die gesamte Staatengemeinschaft auf, den Mut zu beweisen, diese Utopie von heute zur Realität von morgen werden zu lassen.

Mauern des Isolationismus. Mauern der Ignoranz. Mauern der Furcht. Mauern des Fanatismus. Wir müssen diese Mauern, die uns voneinander trennen, niederreißen und gemeinsam die Grundlagen unserer Zukunft festigen. Wir müssen uns dieses wichtigste aller menschlichen Unternehmen – das Unternehmen des Friedens zwischen den Nationen – wieder zu eigen machen und mit neuer Kraft vorantreiben.