Generalsekretär Kofi Annan: Das Ideal der Gleichberechtigung der Geschlechter ist noch lange nicht Wirklichkeit geworden

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Erklärung zum Internationalen Tag der Frau (8. März)

NEW YORK, 8. März – Seit 1975, dem Internationalen Jahr der Frau, begehen auch die Vereinten Nationen jedes Jahr am 8. März den Internationalen Tag der Frau. Aus diesem Anlaß hat Generalsekretär Kofi Annan folgende Erklärung veröffentlicht:

Heute begehen wir den letzten Internationalen Tag der Frau im 20. Jahrhundert. Er bietet uns Gelegenheit, Bilanz darüber zu ziehen, welche Fortschritte im Kampf für die Gleichberechtigung der Frau und ihre umfassende Teilhabe am Entwicklungsprozeß bisher erzielt wurden. Aber er zwingt uns auch, darüber nachzudenken, welchen Weg wir noch vor uns haben.

Mit einigem Stolz können wir auf beachtliche Erfolge blicken, die bisher erzielt wurden. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten Frauen nur in einer Handvoll Ländern das Wahlrecht; am Ende dieses Jahrhunderts gilt in der großen Mehrheit aller Länder das allgemeine Wahlrecht. Zu Beginn des Jahrhunderts waren Frauen praktisch von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen; an seinem Ende wird die Beteiligung von Frauen in Führungspositionen national wie international nicht mehr in Frage gestellt.

In vielen Ländern wurden Bestimmungen in die Verfassungen aufgenommen oder Gesetze reformiert, um sicherzustellen, daß die Menschenrechte ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geachtet werden. Diskriminierende gesetzliche Bestimmungen wurden aufgehoben, Rechtskunde und andere Maßnahmen eingeführt, um Frauen auf ihre Rechte aufmerksam zu machen und ihnen den Zugang zu diesen Rechten zu sichern. Die internationale Gemeinschaft hat Gewalt gegen Frauen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als klare Verletzung der Rechte von Frauen gebrandmarkt. Auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene wurden einschneidende Maßnahmen ergriffen, um zu bekämpfen, was immer schon aus Gewissensgründen abzulehnen gewesen wäre.

Aber es bleibt noch viel zu tun. Auf der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend stehen wir vor neuen und alten Herausforderungen. In erster Linie geht es um die Auswirkungen von Globalisierung, Liberalisierung, wirtschaftlicher Umstrukturierung und Privatisierung auf Frauen. Armut bei Frauen – insbesondere bei Alleinerziehenden und älteren Frauen – scheint sich zu verfestigen. Unter den Arbeitslosen und Unterbeschäftigten sind Frauen in der Überzahl. Wenn sie eine Beschäftigung haben, sind Frauen eher als Männer auf schlechter bezahlten Teilzeit-Arbeitsplätzen oder in zeitlich begrenzten und unsicheren Jobs zu finden.

Noch immer bezahlen Frauen mit ihrem Leben für unzureichende Gesundheitsfürsorge. Frauen und Mädchen, vor allem auf dem Land, haben mit vermeidbaren Krankheiten zu kämpfen und finden schwieriger Zugang zu medizinischer Versorgung. Zu unserer Schande ist in Folge unzureichender pränataler und Mutterschaftsvorsorge und begrenzter Möglichkeiten der Familienplanung die Sterblichkeit von Müttern und Kindern in einigen Ländern immer noch hoch. Die Zahl der HIV-Infektionen bei Frauen steigt weiter an, und in vielen Ländern fehlen immer noch Programme für Frauen und Mädchen zur Vorbeugung und Behandlung von HIV/Aids.

Im kommenden Jahr, fünf Jahre nach der Annahme der Erklärung und der Aktionsplattform von Peking – dem weltweit ersten, wirklich umfassenden Maßnahmenkatalog, der alle für die Frauenförderung maßgeblichen Bereiche umfaßt – sollten wir uns erneut dazu verpflichten, diesen Plan vollständig umzusetzen. Das Ideal der Gleichberechtigung der Geschlechter, das wir schon so lange anstreben, ist noch lange nicht Wirklichkeit geworden. Die Strukturen des internationalen Rechtsschutzes zu vervollständigen sollte ganz oben auf unserer Tagesordnung stehen. Ich rufe alle Regierungen, die die Konvention der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau bislang noch nicht ratifiziert haben, dies nun zu tun. Im Dezember dieses Jahres werden wir den 20. Jahrestag der Annahme dieser Konvention begehen, die die notwendigen Schritte vorgibt, um die Diskriminierung der Frau in allen Lebensbereichen, einschließlich der Familie, zu beseitigen. Der rechtliche Rahmen dafür ist fertig, aber er muß durch die Schaffung eines positiven Umfelds ergänzt werden, um die Gleichstellung der Frau auch in der Praxis zu gewährleisten.

An diesem letzten Internationalen Tag der Frau vor der Jahrtausendwende sollten wir uns erneut dazu bekennen, die noch immer vorhandene Diskriminierung und Benachteiligung der Frauen zu beseitigen – sei es in der Arbeitswelt, beim Zugang zu Gesundheitsdiensten, bei Sozialdiensten und in sozialen Sicherungsnetzen, bei der Friedensschaffung und dem Wiederaufbau oder, und das ist vielleicht am wichtigsten, zu Hause. Lassen Sie uns das neue Jahrtausend mit der Vorstellung beginnen, daß für alle Frauen der Welt die Gleichberechtigung der Geschlechter zum Greifen nah ist.