Generalsekretär Kofi Annan: Erneuerung der Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrates muß Eckpfeiler der Friedensförderung im nächsten Jahrhundert sein

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Rede zum hundertsten Jahrestag der Ersten Haager Friedenskonferenz

DEN HAAG/NEW YORK, 18. Mai 1999 – UNO-Generalsekretär Kofi Annan hat aus Anlaß des hundertsten Jahrestages der ersten Internationalen Friedenskonferenz folgenden Vortrag zum Thema „Die Wirksamkeit der internationalen Herrschaft des Rechts bei der Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ in Den Haag gehalten:

Es ist mir eine Ehre, heute mit Ihnen diesen historischen Gedenktag zu feiern. Wir kommen in einer Zeit des Krieges zusammen, um über den Preis des Friedens nachzudenken.

Wir kommen zusammen, um den politischen Weitblick jener Männer und Frauen zu würdigen, die versucht haben, das 20. Jahrhundert zu einem friedlicheren Säkulum zu machen als das vorhergehende. Wir kommen zusammen, um der Macht der Hoffnung über die menschliche Erfahrung Ehre zu erweisen.

Aber heute hat uns nicht nur Hoffnung zusammengebracht, sondern auch Angst. Die Angst, daß das Grauen des Krieges und des Völkermords dieses Jahrhunderts sich wiederholen könnte, ein Grauen, das sich kein Teilnehmer der Haager Konferenz im Jahre 1899 je hätte vorstellen können.

Heute, hundert Jahre später, wissen wir, daß ihr Anliegen noch relevanter, noch notwendiger, noch dringlicher geworden ist, den je zuvor. Wir wissen das, weil wir im Schatten eines Krieges zusammenkommen, der die schrecklichsten Ereignisse unseres Jahrhunderts wieder wachruft – Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Massenmorde und die massive Vertreibung eines ganzen Volkes nur wegen seiner puren Existenz. Es ist sehr schwer, angesichts solchen Terrors, den Glauben in die Menschheit nicht völlig zu verlieren.

Sind wir nach allem was dieses Jahrhundert erleiden mußte, wenn Europa gegen Ende dieses Jahrhunderts immer noch Verbrechen wie im Kosovo erlebt, wirklich berechtigt überhaupt von menschlichem Fortschritt zu sprechen? Wie können wir behaupten, daß Konferenzen wie die in Den Haag uns gerade noch vom Rande einer Katastrophe bewahrt haben, wenn sich zu jeder Stunde und an jedem Tag auf den Fernsehschirmen dieser Abgrund vor uns auftut?

Ich möchte heute versuchen, eine Antwort darauf zu geben, die vielleicht etwas Hoffnung für die Zukunft bietet, aber auch deutlich macht, wie weit wir von der Umsetzung der Visionen derer, die wir heute ehren, noch entfernt sind.

Als die Friedenskonferenz vor 100 Jahren in dieser Stadt zusammentrat, ging es nicht darum, einen Krieg zu beenden, sondern künftigen Kriegen vorzubeugen. Ihre Teilnehmer waren Pioniere der Konfliktprävention. Sie versuchten, Instrumente für die friedliche Beilegung von Krisen, die Vorbeugung von Kriegen und die Kodifizierung von Regeln der Kriegsführung auszuarbeiten und sie verfolgten damit das Ziel, Grundprinzipien der Menschlichkeit in den unmenschlichsten Bereich unserer Existenz einzuführen.

All ihre Bemühungen waren von dem Wunsch getragen, „die Übel des Krieges zu verringern, soweit die militärischen Erfordernisse dies zulassen“, wie es in der Präambel des Abkommens hieß.

Sie scheiterten zwar vor allem im Bereich der Rüstungsbeschränkung, aber sie waren erfolgreich in Bezug auf die friedliche Beilegung von internationalen Streitigkeiten. Sie definierten das Wesen der Streitschlichtung und kodifizierten die Regeln des Schlichtungsverfahrens, was in vielen Fällen zu erfolgreichen internationalen Streitschlichtungen führte.

Sie brachten die Idee eines ständigen Internationalen Gerichtshofes auf, die 1922 in die Errichtung des Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshofes, des Vorläufers des heutigen Internationalen Gerichtshofes, mündete.

In einem größeren Zusammenhang haben der Geist und die Ideen, die hinter der Haager Konferenz standen, den Boden für die Schaffung der Vereinten Nationen bereitet. Eine Rechtsordnung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wurde mit der Charta der Vereinten Nationen institutionalisiert. Sie verpflichtete ihre Unterzeichnerstaaten auf eine Vielzahl von Beschränkungen beim Gebrauch von Gewalt.

Nicht nur aufgrund des heutigen Standes des Völkerrechts sondern auch aufgrund der Realität aktueller Konflikte wird deutlich, daß wir es hier mit einer dynamischen Entwicklung zu tun haben, die von allen, die das friedliche Zusammenleben der Nationen wollen, ständige Entschlossenheit erfordert.

Seit 1996 wurde das Abkommen über das Verbot von Atomversuchen angenommen, traten die Abkommen über chemische Waffen und die Landminenkonvention in Kraft und wurde vor allem das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs verabschiedet.

Meiner Ansicht nach stellt der Internationale Strafgerichtshof den größten einzelnen Fortschritt für Gerechtigkeit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit dar. Die Annahme des Statuts war ein Riesenschritt hin zur universellen Bekämpfung der Straflosigkeit. Kein Staat, kein politischer Führer und kein Milizangehöriger, der sich Verbrechen gegen unsere gemeinsame Menschlichkeit schuldig gemacht hat, darf straflos bleiben.

Die Herrschaft des Rechts in den Beziehungen zwischen Staaten kann aber nicht nur auf die Gesetzgebung beschränkt bleiben. Die Achtung der völkerrechtlichen Pflichten ist die unabdingbare Forderung des Systems, das wir anstreben.

Aus diesem Grund muß die Erneuerung der Funktionsfähigkeit und der Bedeutung des Sicherheitsrates zum Eckpfeiler unserer Bemühungen zur Förderung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im nächsten Jahrhundert werden.

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt bedeutende Fälle erlebt, in denen der Sicherheitsrat den Herausforderungen gerecht wurde und sowohl Friedenssicherungseinsätze als auch den Gebrauch von Gewalt legitimierte, wenn dies gerecht und notwendig war. Mittelamerika und die Aufhebung der irakischen Aggression gegen Kuwait sind Musterbeispiele dafür, wie der Sicherheitsrat jene Rolle übernahm, die ihm von seinen Gründern zugedacht wurde.

In jüngerer Zeit gab es jedoch eine bedauerliche Tendenz, den Sicherheitsrat nicht in die Bemühungen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit einzubeziehen.

Der Fall Kosovo hat auf drastische Weise deutlich gemacht, daß die Mitgliedstaaten und regionalen Organisationen in manchen Fällen zu Zwangsmaßnahmen greifen, ohne vom Sicherheitsrat dazu ermächtigt zu sein.

Parallel dazu wurden auch manche vom Sicherheitsrat verhängte internationale Sanktionen von einzelnen Mitgliedstaaten, ja selbst von regionalen Organisationen, unterlaufen.

Dazu kam, daß Staaten auf verschiedenen Gebieten nicht mit dem Sicherheitsrat zusammengearbeitet haben – von der Abrüstung und der Nichtweiterverbreitung bis zur Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien oder den Untersuchungsmissionen der Vereinten Nationen in Menschenrechtsfragen.

Natürlich spielt das nationale Interesse immer eine große Rolle, wenn sich Staaten gelegentlich für Alternativen zur kollektiven Sicherheit entscheiden.

Daneben haben auch die wachsende Zahl regionaler und subregionaler Bündnisse, die Präferenz für sogenannte „Koalitionen der Bereitwilligen“, die zunehmend divergierenden Ansichten innerhalb des Rates und das Auftreten einer einzigen Supermacht und neuer regionaler Mächte zur gegenwärtigen Lage beigetragen.

Am beunruhigendsten war jedoch, meiner Ansicht nach, daß die Staaten auch dann nicht in der Lage waren, ihre nationalen Interessen aufeinander abzustimmen, wenn eine Einigung mit diplomatischem Geschick und Weitblick möglich gewesen wäre. Nationale Interessen sind in den internationalen Beziehungen und in der Arbeit des Sicherheitsrates ständig präsent.

Aber während sich die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges tiefgreifend verändert hat, haben unsere Vorstellungen von dem, was nationales Interesse ist, mit diesen Veränderungen nicht Schritt gehalten, und das muß sich ändern.

Eine neue, breiter angelegte und umfassender konzipierte Definition des nationalen Interesses in diesem neuen Jahrhundert würde – da bin ich ganz sicher – die Staaten dazu veranlassen, viel mehr Gemeinsamkeiten bei der Verfolgung so grundlegender Charta-Werte wie Demokratie, Pluralismus, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu erkennen.

Ich sage das nicht zuletzt, weil ich glaube, daß dies auch im Fall Kosovo zutrifft. Wie Sie sich erinnern, war meine Reaktion auf den Beschluß der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO), Zwangsmaßnahmen ohne ausdrückliche Zustimmung des Sicherheitsrates zu ergreifen, eine doppelte: Ich habe darauf verwiesen, daß der Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit trägt. Mit gleichem Nachdruck habe ich aber auch festgestellt, daß es die Ablehnung einer politischen Lösung durch die jugoslawische Staatsführung war, die diese Maßnahme erst notwendig machte und daß es, in der Tat, Zeiten gibt „wo die Anwendung von Gewalt zur Herbeiführung des Friedens legitim sein kann“.

Ich habe damals wie heute bedauert, daß der Rat nicht in der Lage war, diese zwei gleichermaßen zwingenden Interessen und gleichermaßen zwingenden Prioritäten der internationalen Staatengemeinschaft miteinander zu vereinen. Denn so viel steht fest: Wenn es nicht gelingt, dem Sicherheitsrat wieder seine herausragende Stellung als einzige legitime Instanz für die Anwendung von Gewalt zurückzugeben, dann befinden wir uns auf einem gefährlichen Weg in die Anarchie.

Aber gleichermaßen wichtig ist: Wenn sich der Sicherheitsrat nicht geschlossen für die Bekämpfung massiver Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem Ausmaß wie im Kosovo einsetzt, dann werden wir gerade jene Ideale verraten, auf die die Gründung der Vereinten Nationen aufbaute.

Das ist die eigentliche Herausforderung für den Sicherheitsrat und die gesamten Vereinten Nationen im kommenden Jahrhundert: sich gemeinsam hinter den Grundsatz zu stellen, daß massive und systematische Menschenrechtsverletzungen an einem ganzen Volk nicht hingenommen werden können.

Denn in einer Welt, in der die Globalisierung die Möglichkeiten der Staaten begrenzt hat, ihre Wirtschaft zu kontrollieren, ihre Finanzpolitik zu regulieren oder sich von Umweltschäden und Migration abzuschirmen, kann und darf das letzte Recht, das den Staaten verblieben ist, nicht darin bestehen, seine eigenen Bürger zu versklaven, zu verfolgen oder zu foltern.

Mit anderen Worten: Es darf nicht um die Alternative gehen, entweder Einigkeit im Rat oder Untätigkeit angesichts von Völkermord, wie dies in Rwanda der Fall war; oder um Spaltung im Rat und regionales Handeln, wie im Fall Kosovo. In beiden Fällen hätten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in der Lage sein müssen, eine gemeinsame Ebene im Bekenntnis zu den Grundsätzen der Charta und zur Einigkeit in der Verteidigung unserer gemeinsamen Menschlichkeit zu finden.

Am Vorabend eines neuen Jahrtausend sollten die Vereinten Nationen, die wir uns wünschen, in der Lage sein, sich den dynamischen Veränderungen in der Welt anzupassen, die Souveränität der Staaten zu respektieren und unerschütterlich an ihrer Entschlossenheit festzuhalten, für die Rechte und Grundfreiheiten der Menschen in aller Welt einzutreten.