Generalsekretär Kofi Annan: Für eine „Globalisierung“ von Wissen und Bildung

UNIC/163

Friedlicher Wandel in Deutschland läßt auf globale Kultur des Wissens, der Demokratie und der Menschenrechte hoffen

DRESDEN, 27. April (UNIC) — Anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität Dresden hat UNO-Generalsekretär Kofi Annan heute an der Technischen Universität Dresden folgende Ansprache gehalten:

Es erfüllt mich mit besonderer Freude, diesen Ehrentitel von einer so herausragenden Universität wie der Ihren zu erhalten.

Ich weiß, daß die heutige Ehrung nicht allein mir gilt, sondern daß sie auch eine Würdigung der Vereinten Nationen und ihrer weltweiten Mission für den Frieden bedeutet. Im Namen der Gemeinschaft der Vereinten Nationen möchte ich Ihnen dafür aufrichtig danken.

Es ist immer angenehm, vor einer akademischen Zuhörerschaft zu sprechen. Anderswo erscheint es mir oft, als müßte ich die Hälfte meiner Zeit damit verbringen, irrigen Vorstellungen über die Vereinten Nationen entgegenzutreten. Hier befinde ich mich unter Professoren und Studenten, die mit der Entstehung und der Aufgabe der Organisation, mit ihren Möglichkeiten und Grenzen eng vertraut sind. An dieser Stätte des Wissens möchte ich nun über die Rolle sprechen, die das Wissen – und insbesondere Deutschlands Wissen – in der heutigen Welt spielt.

Die Studenten unter Ihnen sind daran gewöhnt, von Eltern und Lehrern immer wieder gesagt zu bekommen, daß Bildung ein Privileg ist, daß Sie für die Chance, Ihr Denken zu schulen, dankbar sein sollen, daß Sie diese Gelegenheit nutzen sollen, um Ihren Horizont zu erweitern. Ich weiß, Sie denken vielleicht manchmal, das sage man Ihnen nur, um Sie zum Lernen anzuhalten. Und zuweilen stimmt das auch.

Doch hinter solchen Worten steckt eine tiefere, zeitlosere Wahrheit. Schon immer waren Wissen und Fortschritt eng miteinander verknüpft. Der durch Schulen und Universitäten formalisierte Prozeß der Bildung macht das Wesen der Zivilisation aus.

Wissen zu erwerben und zu fördern kann heute eine mächtigere Waffe im Arsenal einer Nation sein als alle Raketen oder Minen. Wissen ist ein Mittel des Protests gegen die Tyrannei; Wissen ist ein Instrument, um Brücken zwischen den Völkern zu schlagen; Wissen ist der Schlüssel zur Beherrschung der Spitzentechnologien; Wissen ist die Währung, in der man sich auf dem Weltmarkt behaupten muß. Das Wissen muß daher ungehindert von und zu allen Menschen strömen können.

Ich fürchte allerdings, daß sich vor uns bereits eine Wissenslücke aufgetan hat, vor allem in den Entwicklungsländern. Allzu wenig wird in die Bildung investiert. Allzu viele junge Menschen suchen im Ausland die Bildung, die sie in ihrer Heimat nicht bekommen können. Armut, Verschuldung und eine schlechte Staatsführung schaffen einen Teufelskreis der Vernachlässigung.

In diesem Zeitalter der Globalisierung müssen wir alles daransetzen, um sicherzustellen, daß auch Wissen und Bildung global werden.

Deutschland ist für seine Bildungstradition in der ganzen Welt bekannt. Aus dieser Tradition sind Friedensnobelpreisträger, Nobelpreisträger in den künstlerischen und insbesondere in den wissenschaftlichen Disziplinen hervorgegangen. Dresden selbst ist ein weltberühmtes Zentrum der Kunst, der Architektur, der Musik und des Forschergeistes. Diese Universität gehört zu den zahlreichen Institutionen hier in Dresden, die über die Jahrhunderte hinweg bedeutende wissenschaftliche Beiträge geleistet haben. Man hat mir von dem Rechenautomat von Professor Nikolaus Lehmann erzählt, der in den frühen sechziger Jahren zwar zunächst als “Prozessor in der Zigarrenschachtel“ belächelt wurde, aber schließlich den Weg zur Entwicklung moderner Desktop-Computer gewiesen hat.

Wie tragisch war es dann für Dresden und für Deutschland, die schreckliche Erfahrung machen zu müssen, wie Wissen und Bildung von Nationalismus und Vorurteilen vergiftet und ihres universellen Charakters beraubt wurden.

Auch heute nutzen Kriegstreiber die Unwissenheit aus, um Ängste zu wecken und Haß zu schüren. So geschehen in Bosnien und Ruanda, wo mörderische Ideologien auf fruchtbaren Boden fielen, weil es an wahrheitsgemäßen Informationen und ehrlicher Wissensvermittlung fehlte. Im Kosovo passiert das heute wieder.

Die deutsche Katastrophe liegt freilich schon lange zurück, und das deutsche Volk hat sich in bewundernswerter und gewissenhafter Weise daran gemacht, eine offene Gesellschaft aufzubauen. Dennoch gibt es immer noch Menschen, die Einwanderer und Fremde diskriminieren und zur Zielscheibe ihrer Gewalttaten machen.

Bundeskanzler Schröder hat, wie Sie wissen, bei seinem Amtsantritt zu größerer Toleranz aufgerufen und erklärt: “Diese Menschen, die in unserer Mitte leben, sind keine Fremden. Zu Fremden sind vielmehr diejenigen geworden, die in unserem Land Haß und Fremdenfeindlichkeit propagieren.“ Das sind unmißverständliche und gleichzeitig hoffnungsvoll stimmende Worte.

Zu den beispiellosen Erfahrungen Dresdens gehören auch die unsäglichen Bombennächte des Februar 1945. Der Name Dresden ist als Synonym für Verwüstung und sinnlose Zerstörung in die Symbolsprache der Welt eingegangen.

Doch selbst aus diesem Schrecken kann noch Gutes erwachsen. Dresden wurde zum weltweiten Fanal für den Frieden, für den Widerstand gegen Fanatismus und für das Lernen aus der Vergangenheit. „Das ist die Botschaft, die von Dresden aus in alle Welt gehen muß“, sagte Bundespräsident Roman Herzog anläßlich des fünfzigsten Jahrestags der Bombardierung. Ich teile seine Ansicht, daß kein anderer Ort in Deutschland diese Botschaft besser verbreiten könnte, als Dresden.

Liebe Freunde,

es erscheint mir angebracht, diese Anmerkungen zum Thema “Wissen“ mit einem Hinweis auf Viktor Klemperer zu beschließen, einen Bürger dieser Stadt, Professor an dieser Universität und Verfasser der Kriegstagebücher “Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“.

Er hat schrecklich darunter gelitten, von Vorurteilen umgeben zu sein und ein Regime miterleben zu müssen, das Bildung, Gelehrsamkeit und Aufklärung als seine Feinde betrachtete. Klemperer sah, wie Freunde und Kollegen Deutschland verließen, um sich in Sicherheit zu bringen, doch er blieb, als einer, der nie seinen Glauben an Deutschland und die Deutschen verlor. In seinem Tagebuch schrieb er: “Ich bin deutsch und warte, daß die Deutschen zurückkommen; sie sind irgendwo untergetaucht.“

Hier im Saal und bei meinen Begegnungen mit den führenden Politikern Deutschlands und den Vertretern seiner Zivilgesellschaft erlebe ich, daß Deutschland und die Deutschen schon lange wieder zurückgekommen sind und heute einen weltoffenen Weg eingeschlagen haben.

In ihrer friedlichen Entwicklung und ihrem friedlichen Wandel hat die deutsche Gesellschaft neue Perspektiven für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritt aller Völker eröffnet. Das deutsche Beispiel läßt uns hoffen, daß eine globale Kultur des Wissens mit gegenseitigem Verständnis, Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit möglich ist. Auf dieses Wissen, diese Erkenntnis, kann die Völkergemeinschaft bauen. Ich danke Ihnen.