UNCTAD warnt vor Globalisierung

UNIC/65

Wirtschaftspolitik soll ökonomischer Polarisierung und zunehmenden Disparitäten in der Einkommensverteilung entgegenwirken

GENF/BONN, 15. September (UNCTAD): Das auffallendste Merkmal der weltwirtschaftlichen Entwicklung seit Anfang der 80er Jahre ist eine immer stärkere Integration durch die Entfesselung von Marktkräften. Gleichzeitig ist die Weltwirtschaft jedoch durch eine wachsende soziale und wirtschaftliche Kluft auf nationaler wie auf internationaler Ebene gekennzeichnet.

Daher besteht die ernstzunehmende Gefahr, daß die Globalisierung einen politischen Rückschlag erfährt, der ebensogut von den Industrieländern wie von den Entwicklungsländern ausgehen könnte. Ein solcher Rückschlag könnte die positiven Auswirkungen der Reformen der vergangenen zehn Jahre und einige der langfristigen Errungenschaften der Integration der Weltwirtschaft zunichte machen. Die 20er und 30er Jahre haben gezeigt, wie schnell das Ver-trauen in den Markt und in die wirtschaftliche Öffnung durch politische Ereignisse erschüttert werden kann.

Die Anzeichen mehren sich, daß schwaches Wachstum und zunehmende Ungleichheiten der Einkommensverteilung zu dauernden Merkmalen der Weltwirtschaft werden. Zu dieser Schlußfolgerung gelangt die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) in ihrem Bericht zu Handel und Entwicklung 1997 (Trade and Development Report 1997, 216 Seiten). Diese Feststellung sollte die Politiker weltweit wachrütteln. Dabei sieht UNCTAD sehr wohl Möglichkeiten, durch eine angemessene Wirtschaftspolitik die Integration der Weltwirtschaft so zu gestalten, daß sie mit höherem Wachstum und verteilungspolitischen Zielen vereinbar ist.

Warnsignale rund um den Globus

Im einzelnen kommt der Bericht zu Handel und Entwicklung bei der Untersuchung der gegenwärtigen Situation der Weltwirtschaft zu folgenden Ergebnissen:

  • Die Weltwirtschaft wächst mit Ausnahme einiger Länder immer noch zu langsam um ausreichend Arbeitsplätze mit angemessener Entlohnung zu schaffen und die Armut wirksam zu bekämpfen (siehe Pressemitteilung UNIC/66).
  • Die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, aber auch jene zwischen verschiedenen Gruppen von Entwicklungsländern, verbreitert sich immer mehr. 1965 lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der 20 Prozent der Weltbevölkerung am oberen Ende der Einkommensskala dreißigmal so hoch wie das der 20 Prozent am unteren Ende. Seither ist dieser Quotient auf 60 gestiegen.
  • Die hohen Einkommen sind überall weiter gestiegen – nicht nur im Vergleich mit den Ärmsten der Gesellschaft; die Erosion der Mittelklasse ist zu einem auffallenden Merkmal der Einkommensverteilung in vielen Industrie- und Entwicklungsländern geworden.
  • Der Finanzsektor hat gegenüber der Industrie erheblich an Bedeutung gewonnen, ebenso wie die Einkommen aus Finanzvermögen gegenüber den Einkommen aus Unternehmertätigkeit. In einigen Entwicklungsländern machen die Zinszahlungen inzwischen 15 Prozent des Sozialprodukts aus, und der Handel mit bestehenden Vermögenswerten ist oft sehr viel lukrativer als die Schaffung von neuem Realvermögen durch produktive Investitionen.
  • Die Einkommen aus Kapitalerträgen sind im Vergleich zu den Arbeitseinkommen gestiegen. Die Profitquoten haben sowohl in den Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern zugenommen. In vier von fünf Entwicklungsländern ist der Anteil der Löhne an der industriellen Wertschöpfung heute geringer als zu Beginn der 80er Jahre.
  • Arbeitsplatz- und Einkommensunsicherheit greifen um sich. Einerseits lasten steigende Zinskosten auf den Gewinnen, andererseits sind Umstrukturierungen in Unternehmen, Arbeitsplatzabbau und Lohnsenkungen sowohl im Norden als auch in Teilen des Südens an der Tagesordnung.
  • Der wachsende Einkommensunterschied zwischen gelernten und ungelernten Arbeitnehmern wird zu einem weltweiten Problem. In den Industrieländern, und stärker noch in vielen Entwicklungsländern, hat sich seit Anfang der 80er Jahre ein Trend zu einem absoluten Rückgang der Reallöhne für ungelernte Arbeitskräfte durchgesetzt: in einigen Fällen liegen diese heute um bis zu 30 Prozent unter dem Niveau von 1980.

Eingliederung in die Weltwirtschaft erfordert aktive Wirtschaftspolitik

Abweichend von einer häufig anzutreffenden Auffassung vertritt UNCTAD die Ansicht, daß eine Zunahme des Wettbewerbs auf dem Weltmarkt nicht automatisch wachstums- und entwicklungsfördernd wirkt. Ebensowenig gehen Wachstum und Entwicklung zwangsläufig mit einer Verringerung von Einkommensdisparitäten einher. Es gibt kein wirtschaftliches Gesetz, nach dem die Entwicklungsländer automatisch das Einkommensniveau der Industrieländer erreichen, sobald sie nur Außenhandel und Kapitalverkehr liberalisieren.

UNCTAD empfiehlt den Entwicklungsländern mit Nachdruck ein vorsichtiges und schrittweises Vorgehen bei der Öffnung ihrer Volkswirtschaften – im Gegensatz zu der in vielen Teilen der Welt in den vergangenen Jahren angewendeten Schocktherapie. Dabei sollte der Liberalisierungs- und Integrationsprozeß an die jeweilige Leistungsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften und ihrer Institutionen angepaßt werden. Die Integration in den Weltmarkt sollte nicht einfach dem Spiel der Marktkräfte überlassen werden, fordert der UNCTAD-Bericht. Eine aktive Wirtschaftspolitik, die auf diesen Prozeß gestaltend Einfluß nimmt, kann laut UNCTAD auch zu beschleunigtem Wachstum und einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung beitragen.

Förderung der Entwicklung durch Einkommenspolitik

Die herrschende Auffassung, derzufolge die Wirtschaftspolitik angesichts der Kräfte der Globalisierung immer weniger Spielraum für die Verfolgung entwicklungspolitischer Ziele hat, wird von UNCTAD nicht geteilt. Der Bericht zu Handel- und Entwicklung 1997 betont, daß die Rolle der Wirtschaftspolitik nach wie vor von großer Bedeutung ist, da „Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung entscheidend von der Verwendung der Gewinne abhängen“.

In diesem Zusammenhang führt der diesjährige Bericht die in den vergangenen Jahren vorgelegten Untersuchungen der UNCTAD über die Entwicklung in Ostasien weiter fort. In den meisten Ländern dieser Region hat die Wirtschaftspolitik entscheidend zu einer engen Koppelung von Gewinnentwicklung und Investitionstätigkeit beigetragen. Dies wurde u.a. durch Anreize für Unternehmen erreicht, einen Großteil ihrer Gewinne nicht auszuschütten sondern in neue Ausrüstung, Kapazitätserweiterung und Arbeitsplätze zu reinvestieren. Darüberhinaus wurden unproduktive Kanäle der Vermögensakkumulation geschlossen und der Konsum von Luxusgütern eingeschränkt.

Wie die Erfahrung zeigt, kann sich eine Wirtschaftspolitik, der es gelingt die steigenden Gewinne in Wachstumsbeschleunigung umzusetzen, auch günstig auf die Einkommensverteilung auswirken. Wichtig dabei ist jedoch, daß die Verteilungspolitik bereits von Anfang an in die Entwicklungsstrategien miteinbezogen wird, so wie dies mit Erfolg in einigen der heutigen Schwellenländer geschehen ist.

Gewinne, Investitionen und Einkommensungleichheit

“Wenn an die Stelle von Spekulationen über eine Verringerung der Unterschiede in den Einkommen und Lebensstandards ein realistisches politisches Programm treten soll, muß man sich zunächst einmal Klarheit über die Triebkräfte des Wachstums in einer Marktwirtschaft verschaffen. Hier spielen die Gewinne die Hauptrolle“,heißt es in dem Bericht.

Vor diesem Hintergrund bietet der UNCTAD-Bericht eine – von anderen Beiträgen zu diesem Thema deutlich abweichende – Analyse der Zusammenhänge zwischen Gewinnen, Einkommensniveau und Investitionen im Zeitalter der Globalisierung.

Ob und inwieweit steigende Gewinne zu einer Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards beitragen, hängt von der kreativen Energie der Unternehmer ab, betont UNCTAD. Der Bericht unterstreicht jedoch, daß das Gewinnmotiv der Unternehmer nicht zwangsläufig zur Schaffung neuer produktiver Vermögenswerte führt. Stattdessen werden heute häufig Teile bereits bestehenden Realvermögens mit dem Blick auf große Spekulationsgewinne gekauft oder verkauft.

Einige der Faktoren, die zu wachsenden Einkommensdisparitäten im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft beitragen, verhindern zugleich produktive Investitionen und verlangsamen das Wirtschaftswachstum. So hat die schnelle Liberalisierung das Finanzwesen weitgehend von Handel und Realkapitalbildung abgekoppelt. Eine stärkere Konzentration von Reichtum in der Hand einiger weniger geht einher mit stagnierenden Investitionen, steigender Arbeitslosigkeit und geringeren Reallöhnen.

Einseitige Ausrichtung der Handelsliberalisierung

Wirksame Wirtschaftsreformen in den Entwicklungsländern sind nur ein Teil der Gleichung, die aufgehen muß, wenn die Einkommensunterschiede innerhalb der Weltwirtschaft abgebaut werden sollen. Notwendig ist aber auch ein günstiges weltwirtschaftliches Umfeld.

“Zu den Asymmetrien der Globalisierung gehört die Tatsache, daß sich die Liberalisierung der Weltwirtschaft bislang einseitig vollzogen hat. Die Wachstumsaussichten der Entwicklungsländer werden beeinträchtigt, da die Liberalisierung von Bereichen, in denen diese Länder einen komparativen Vorteil im internationalen Handel erlangen können, nur sehr langsam voranschreitet“, stellt der Bericht fest.

Es bleibt eine dringliche Aufgabe für die gesamte internationale Gemeinschaft, diese Ungleichgewichte schrittweise abzubauen. In den zukünftigen Handelsgesprächen muß daher das Gleichgewicht der Interessen wiederhergestellt werden. Dabei muß die Liberalisierung in den Sektoren, die für die Entwicklungsländer traditionell von Bedeutung sind, beschleunigt werden; zugleich müßte es zu einer Verständigung über weitere Bereiche im Handel mit Gütern und/oder Dienstleistungen kommen, in denen die Marktzugangsbedingungen für die Entwicklungsländer verbessert werden, um ihnen neue Exportmöglichkeiten zu eröffnen.