UN-Generalsekretär Guterres: Redebeitrag zur Münchner Sicherheitskonferenz, 19. Februar 2021

UN-Generalsekretär António Guterres:

Liebe Freunde,

Die Welt wird durch immer größere und komplexere Herausforderungen auf die Probe gestellt.

Doch unsere Antworten bleiben fragmentiert und unzureichend.

COVID-19 hat die tiefen Gräben und Schwachstellen der Welt ans Licht gebracht.

Diese Verwundbarkeiten gehen weit über Pandemien und die öffentliche Gesundheit hinaus.

Es droht die Klimakatastrophe.

Ungleichheit und Diskriminierung zerreißen die Gesellschaft.

Korruption zerstört Vertrauen.

Der Kampf für die Frauenrechte trifft auf Gegenwind.

Bei den Nachhaltigkeitszielen sind wir nicht mehr auf Kurs.

Wildwest-Gehabe im Cyberraum hat neue Vektoren der Instabilität erzeugt.

Und das Regime der nuklearen Abrüstung bröckelt – trotz der willkommenen Entscheidung der Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation, den Neuen START-Vertrag zu verlängern.

2021 müssen wir das Ruder herumreißen. Die Überwindung der Pandemie ist unsere Chance.

Es gibt vier zwingende Prioritäten.

Erstens, ein globaler Impfplan.

Impfstoffe müssen für alle und überall verfügbar und erschwinglich sein.

Eine faire Verteilung der Impfstoffe ist entscheidend für die Rettung von Menschenleben und Volkswirtschaften.

Die Länder müssen überschüssige Impfdosen weitergeben und die für die COVAX-Initiative benötigten 6,8 Milliarden Dollar bereitstellen.

Auch müssen wir die globalen Produktionskapazitäten mindestens verdoppeln – durch die Übertragung von Lizenzen und den Technologietransfer.

Die G20 sind gut für die Einrichtung eines Notfallstabs positioniert, der einen solchen globalen Impfplan erstellen kann und der Länder, Unternehmen und internationale Organisationen und Finanzinstitutionen mit der nötigen Macht, wissenschaftlichen Expertise und Produktions- und Finanzierungskapazität zusammenführt.

Ich stehe bereit, das gesamte System der Vereinten Nationen für diese Aufgabe zu mobilisieren.

Unsere zweite Priorität muss sein, bis 2050 die Treibhausgasemissionen auf Netto-Null zu senken.

Es gibt Anlass zur Hoffnung.

Die Länder, die zusammen über 65 Prozent der Emissionen verursachen und einen Anteil von über 70 Prozent an der Weltwirtschaft haben, haben sich auf dieses Netto-Null-Ziel verpflichtet.

Lassen Sie uns dieses Bündnis bis zur Glasgower Klimakonferenz im November auf 90 Prozent erweitern.

Alle Länder, Städte, Unternehmen und Finanzinstitutionen sollten sich Zielmarken auf dem Weg zu Netto-Null in den nächsten 30 Jahren setzen.

Dies sollte jetzt und mit konkreten Schritten beginnen, also:

  • Den CO2-Ausstoß bepreisen.
  • Die Subventionierung und Finanzierung von Kohle und anderen fossilen Brennstoffen beenden und stattdessen in erneuerbare Energien investieren.

Drittens müssen wir geopolitische Spannungen abbauen und die Friedensdiplomatie stärken. Wir können die größten Probleme nicht lösen, wenn die größten Mächte uneins sind.

Wir können uns keine Zukunft leisten, in der die beiden größten Volkswirtschaften die Welt in zwei gegnerische Lager aufspalten – mit jeweils eigener Leitwährung und eigenen Handels- und Finanzregeln, eigenem Internet und eigenen Kapazitäten in künstlicher Intelligenz.

Eine technologische und ökonomische Kluft droht zu einer geostrategischen und militärischen Kluft zu werden.

Dies müssen wir unbedingt vermeiden.

Ich wiederhole auch meinen Aufruf zu einer globalen Waffenruhe.

In einigen verfahrenen Friedensprozessen gibt es ermutigende Zeichen.

Doch andernorts gehen die Kämpfe weiter.

Dabei verlieren wir alle.

Einer Waffenruhe bedarf es auch an anderen Fronten:

Zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Schule und in öffentlichen Verkehrsmitteln, wo Frauen und Mädchen mit einer Epidemie der Gewalt konfrontiert sind.

Und im Cyberraum, wo es täglich zu Attacken aller Art kommt. Die digitalen Technologien müssen eine Kraft zum Guten sein – und das erfordert ein Totalverbot tödlicher autonomer Waffen.

Viertens ist es an der Zeit, die Weltordnung für das 21. Jahrhundert neu zu definieren.

Das vor mehr als 75 Jahren vereinbarte System der kollektiven Sicherheit hat einen dritten Weltkrieg verhindert.

Unsere gemeinsamen Grundsätze müssen auch in diesem Jahrhundert fortbestehen.

Das bedeutet, für neue Wege zur Erbringung globaler öffentlicher Güter, zu einer fairen Globalisierung und zur Lösung gemeinsamer Probleme zu sorgen.

Wir brauchen keine neuen Bürokratien.

Aber wir müssen den Multilateralismus stärken, damit die Welt …

… einen Multilateralismus hat, der globale und regionale Organisationen vernetzt,

… einen inklusiven Multilateralismus, der Unternehmen, Städte, Universitäten und Bewegungen für die Gleichstellung der Geschlechter, den Klimaschutz und ein Ende des Rassismus mobilisiert,

… und einen Multilateralismus, der die Rechte kommender Generationen achtet. Viele glauben, dass eine zunehmend multipolare Welt Frieden garantieren wird.

Doch lernen wir aus der Geschichte. Vor mehr als 100 Jahren war Europa multipolar, hatte jedoch keine multilateralen Ordnungsmechanismen. Der Erste Weltkrieg war die Folge.

Heute bedarf es der Solidarität und internationalen Zusammenarbeit, damit wir unsere immer größeren und komplexeren Probleme bewältigen können.

Ich bin überzeugt, dass wir mit Entschlossenheit unsere gemeinsamen Ziele erreichen können. Ich danke Ihnen.