UN-Generalsekretär António Guterres: Die Lösung globaler Probleme birgt ein Paradox

UN-Generalsekretär Guterres

Dieser Artikel erschien am 6. Februar 2022 zuerst als Gastbeitrag bei FAZ Online.


Als Generalsekretär der Vereinten Nationen verbringe ich einen guten Teil meiner Zeit in Gesprächen mit Staatslenkern und -lenkerinnen und messe den Puls globaler Entwicklungen. Es ist offenkundig, dass wir uns an einem entscheidenden Punkt in den internationalen Beziehungen befinden. Globale Entscheidungsprozesse sind zum Stillstand gekommen – und ein grundlegendes Paradox ist die zentrale Ursache.

Viele führende Politikverantwortliche erkennen die Gefahren, die uns gemeinsam bedrohen – COVID-19, der Klimawandel, die ungezügelte Entwicklung neuer Technologien. Sie sind sich darin einig, dass diesen Gefahren begegnet werden muss. Diesem gemeinsamen Verständnis steht jedoch kein gemeinsames Handeln gegenüber.

Tatsächlich vertiefen sich die Gräben immer weiter.

Wir sehen sie überall: in der ungerechten und ungleichen Verteilung von Impfstoffen, in einem Weltwirtschaftssystem, das die Armen systematisch benachteiligt, in der völlig unzureichenden Reaktion auf die Klimakrise, in digitalen Technologien und einer Medienlandschaft, die von Spaltungen profitieren, und in der Zunahme von Unruhen und Konflikten in aller Welt.

Wenn sich also die Welt in der Diagnose dieser gemeinsamen Probleme einig ist, warum schafft sie es dann nicht, ihnen wirksam zu begegnen?

Hierfür sehe ich zwei wesentliche Gründe.

Erstens: Die Außenpolitik wird oft zum verlängerten Arm der Innenpolitik.

Als früherer Ministerpräsident weiß ich, dass Fragen von internationalem Belang trotz bester Absichten unter die Räder der Innenpolitik geraten können. Wenn es um vermeintlich nationale Interessen geht, bleibt das globale Gemeinwohl leicht auf der Strecke.

Dieser Impuls ist verständlich, auch wenn er in Fällen, in denen Solidarität im Eigeninteresse eines Landes liegt, fehlgeleitet ist.

Die Impfsituation ist ein Paradebeispiel.

Es ist kein Geheimnis, dass ein Virus wie das Coronavirus keinen Halt vor Landesgrenzen macht. Das Risiko, dass neue und gefährlichere Varianten entstehen, die alle Menschen in allen Ländern treffen, lässt sich nur mindern, wenn alle geimpft werden.

Anstatt jedoch der Aufstellung eines globalen Plans zur Impfung aller Menschen Vorrang einzuräumen, haben die Regierungen bislang eher das Ziel verfolgt, die Bevölkerung ihres eigenen Landes zu schützen. Mit dieser Strategie bleiben sie aber auf halber Strecke stehen.

Natürlich müssen Regierungen die Bevölkerung ihres Landes schützen. Wenn sie aber nicht gleichzeitig darauf hinwirken, dass die gesamte Weltbevölkerung geimpft wird, fruchten ihre nationalen Impfpläne möglicherweise nichts, da immer neue Virusvarianten entstehen und sich ausbreiten.

Zweitens: Viele globale Institutionen oder Regelwerke sind heute veraltet oder einfach zu schwach, und geopolitische Spaltungen verhindern die notwendigen Reformen.

So ist etwa die Weltgesundheitsorganisation bei weitem nicht mit den Befugnissen ausgestattet, die sie benötigt, um die Bekämpfung globaler Pandemien zu koordinieren.

Gleichzeitig sind mächtigere internationale Institutionen entweder bis zur Handlungsunfähigkeit gespalten – wie etwa der Sicherheitsrat – oder undemokratisch aufgebaut – wie viele unserer internationalen Finanzinstitutionen.

Kurz, die globale Ordnung versagt genau in dem Moment, in dem die Welt zur Lösung globaler Probleme an einem Strang ziehen sollte.

Im nationalen wie im globalen Selbstinteresse müssen wir gemeinsam handeln, um unverzichtbare globale öffentliche Güter wie die Gesundheit der Allgemeinheit und ein lebensfreundliches Klima, die das Wohl aller Menschen fördern, zu schützen.

Reformen sind unabdingbar, wenn unser gemeinsames Streben nach Erfüllung unserer kollektiven globalen Ziele – Frieden, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und Menschenwürde für alle – Erfolg haben soll.

Dies ist eine schwierige und komplexe Aufgabe, bei der Fragen der nationalen Souveränität berücksichtigt werden müssen.

Was wir aber nicht akzeptieren können, ist Untätigkeit. Die Welt braucht dringend effektivere und demokratischere internationale Mechanismen, die die Menschheitsprobleme lösen können.

Wie uns die Pandemie gelehrt hat, sind wir schicksalhaft miteinander verbunden. Lassen wir auch nur einen Menschen zurück, laufen wir Gefahr, alle zurückzulassen. Die verletzlichsten Regionen, Länder und Menschen sind die ersten Opfer dieses Paradoxes globaler Politik, aber es droht allen Menschen überall auf der Welt unmittelbar Gefahr.

Die gute Nachricht ist, dass wir den globalen Herausforderungen nicht machtlos gegenüberstehen.

Probleme, die die Menschheit geschaffen hat, kann sie auch lösen.

Im September letzten Jahres habe ich einen Bericht zu diesen Fragen veröffentlicht. Unsere gemeinsame Agenda ist ein Ausgangspunkt, ein Plan, der die Welt an einen Tisch bringen soll, um diese globalen politischen Herausforderungen anzugehen und den Multilateralismus für das 21. Jahrhundert neu zu beleben.

Einen Wandel herbeizuführen, wird weder leicht sein noch über Nacht geschehen. Wir können jedoch einen Anfang machen, wenn wir Bereiche des Konsenses finden und uns auf Fortschritte zubewegen.

Dies ist unsere härteste Bewährungsprobe, denn es steht so viel auf dem Spiel.

Die Folgen zeigen sich uns schon. Wenn die Menschen das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Institutionen zu verlieren beginnen, besteht die Gefahr, dass sie auch den Glauben an die Werte verlieren, auf denen diese Institutionen gründen.

In jedem Winkel der Erde sehen wir einen Vertrauensverlust und – so befürchte ich – den Anfang des Niedergangs gemeinsamer Werte.

Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Misstrauen, Rassismus und Diskriminierung werfen dunkle Schatten auf jede Gesellschaft.

Wir müssen die Menschenwürde und den menschlichen Anstand wiederherstellen und Antworten auf die Sorgen und Ängste der Menschen geben.

Angesichts wachsender und miteinander verknüpfter Bedrohungen, enormen menschlichen Leids und gemeinsamer Gefahren haben wir die Pflicht, unsere Stimme zu erheben und zu handeln, um das Feuer zu löschen.